“A whale of a time” oder Neufundland, das 8. Weltwunder? (Teil 1)
Was Glück wirklich ist, darüber gibt es viele Diskussionen und Theorien. Doch wenn Orte glücklich machen können, dann ist Neufundland bestimmt ein heißer Anwärter auf einen Spitzenplatz. Mit seinen unberührten Landschaften. Seiner Weite. Mit Eisbergen. Walen. Tollpatschigen Papageientauchern. Leuchttürmen. Ungeschönt freundlichen Leuten, die sich nicht mit Schlössern und Schlüsseln vor den Mitmenschen schützen müssen. Und die sagen, in Neufundland hätte man „a whale of a time“. Ich sage, sie haben recht.
Fisch überm Meer
Heutzutage sprechen Menschen ja oft nur miteinander, wenn es kein WiFi gibt. Oder, im Falle eines Flugzeugs, auch schon mal, wenn der Bildschirm kaputt ist. So lerne ich auf dem Flug nach St. John’s, der Hauptstadt der kanadischen Provinz Neufundland & Labrador, Bruno kennen. Er ist Brasilianer und macht seit vier Jahren sein Doktorat in Meeresbiologie in St. John’s – ebenso wie seine norwegische Kommilitonin einige Reihen vor ihm, die er zufällig am Flughafen getroffen hat. Während ich mich frage, was junge Ausländer wohl in einer Stadt mit gerade mal 110.000 Einwohnern anfangen, auf einer Insel, wo es oft kalt ist, viel Nebel gibt, genauso viel Regen und im Winter noch mehr Dunkelheit, bekomme ich schon die Antwort. „Ab ersten Juli dürfen wir Kabeljau fischen“, frohlockt Bruno, und die Norwegerin gibt mir auf dem Weg zur Toilette Tipps, wo ich am besten Lachse und Hummer angeln kann.
Schnell verstehe ich, dass die Fischerei in Neufundland um einiges komplexer ist, als mir bewusst war. Man könne nicht nach Lust und Laune angeln gehen – und schon gar keinen Kabeljau, klärt mich Bruno auf. Freizeitangler dürften 2017 ganze 46 Tage lang fischen, in vorgegebenen Gebieten, wobei pro Tag pro Person nur fünf Fische gefangen werden dürften, inklusive Kabeljau. Säßen zwei Personen im Boot, gingen zehn Fische, wobei die Höchstzahl pro Boot 15 Fische seien, sonst müsse man schnell tausende kanadischer Dollar an Strafe zahlen.
„Es gibt immer noch das Problem der Überfischung“, berichtet Bruno. „Als Hobbyangler braucht man keine Zulassung, aber Berufsfischer haben eine und dürfen maximal zehn- oder fünfzehntausend Pfund Fisch pro Woche an Land bringen.“ Ab Juli 1992 habe es einen zehnjährigen Fischerei-Stopp in der nordatlantischen Handelsfischerei gegeben, nachdem diese wegen massiver Überfischung komplett zusammenbrach. Besonders stark sei der Kabeljaubestand betroffen gewesen, der sich erst jetzt, nach über zwei Jahrzehnten, langsam wieder erhole.
Bis der Flieger in St. John’s aufsetzt, weiß ich nicht nur alles über die aktuelle Fisch-Lage Neufundlands, sondern auch, wo man sich in der Hauptstadt am besten betrinkt. „Geh in die George Street, das gibt‘s nur Bars und Pubs!“ Auch Yellow Belly, eins der beliebtesten Pubs, sei ein Muss. Am liebsten würde ich gleich ins Nachtleben abtauchen und mir am nächsten Morgen eine Angelrute zulegen – da fällt mir ein, dass ich ja auf Pressereise in Neufundland bin.
Willkommen im „achten Weltwunder“
Das Erste, was ich lerne: Eigentlich heißt Newfoundland auf Englisch gar nicht Newfoundland, sondern eher Newfunnlaaand, was sich je nach Sprecher auch schon mal wie Newfinlaaand anhört – und tatsächlich sollen mich die Landschaften mehr als einmal an Finnland erinnern. Larry, unser Busfahrer, ein siebzigjähriger, braungebrannter Mann, dessen Augen ständig strahlen und der ein Dauerlächeln auf den Lippen hat, ist der erste Neufundländer, den ich sprechen höre – eine Mischung aus englischem und irischem Akzent, da sich aus beiden Ländern viele Menschen in Neufundland ansiedelten.
„Die Leute verstehen mich immer schlecht, aber sie lieben, was ich sage“, scherzt er mit uns. Wir, das sind fünf Journalistinnen und ein bedauernswerter kanadischer Guide, Ron. Larry verspricht, dass wir in Neufundland „a whale of a time“ haben werden. Kaum hat er es ausgesprochen, sehen wir vor Quidi Vidi, einem urigen Stadtteil von St. John‘s, der mit seinen bunten Holzhäusern und kleinem Fjord aussieht wie ein Miniatur-Fischerdorf, auch schon die ersten Wale. In den Sommermonaten ist vor der Ost- und Nordküste Neufundlands Wal-Zeit. Zumindest schicken sie uns einige Blas-Willkommensgrüße, bevor ihre Rückenflossen wieder unter der Wasseroberfläche verschwinden.
„Vor Kurzem habe ich eine Tour mit Bryan Adams durch Neufundland gemacht“, berichtet Larry stolz. „Und wisst ihr, was er mir danach gesagt hat? Dass Neufundland das achte Weltwunder werden sollte!“ Alle sehen ihn skeptisch an. Ich ahne noch nicht, dass ich Bryan in wenigen Tagen voll zustimmen soll.
Bier aus Eisbergen
Quidi Vidi hat mehr zu bieten als schmucke Häuschen und Boote. Es ist auch Heimat der Quidi Vidi Brauerei, 1996 von zwei Ingenieuren in einer ehemaligen Fischfabrik eröffnet, wo unter anderem Bier aus bis zu 25.000 Jahre alten Eisbergen gebraut wird: das Iceberg Beer, das in nachthimmelblauen Flaschen verkauft wird. Kein Wunder, dass die Flaschen manchmal ausgehen, weil die Leute sie einfach nicht zurückgeben wollen, wie Les, ein Angestellter der Brauerei, weiß. „Neufundland hat Ed Kean, den Eisberg-Cowboy. Er fährt im Sommer jeden Tag 16 Stunden lang zu den Eisbergen raus, erntet so viele Eisstücke wie möglich, und die werden dann in Bonavista geschmolzen und an uns verkauft.“
Überhaupt sei es das Wasser, das ein Bier ausmache, und das Eisberg-Bier bestehe zu 98% aus Wasser. „Eisbergwasser ist das sauberste Wasser der Welt.“ Auf die Frage, ob das Bier auch ins Ausland exportiert werde, schüttelt Les wild den Kopf. Es bleibe nichts übrig, weil die Neufundländer selbst so viel Bier trinken würden – etwa 20 Dutzend Liter Bier pro Kopf jährlich. „Wir exportieren nur in ein paar kanadische Provinzen, vor allem nach Alberta, weil da viele Neufundländer leben.“
Die Brauerei ist jedoch nicht nur wegen ihres Eisberg-Biers beliebt. Jeden Freitagabend startet im Pub gegenüber eine sogenannte ‚Kitchen Party‘, Küchenparty. „Im atlantischen Kanada trinkt man normalerweise zusammen Bier in der Küche, wenn man bei jemandem eingeladen ist“, erklärt Les. „Unsere ist die einzige Kitchen Party in einer Brauerei in St. John’s, und ab 18 Uhr spielt unsere Band – The Brew Crew.“ Die Band besteht aus sieben Rentnern. Einer von ihnen ist Harold Snow, der mir erzählt, wie viel Freude er daran habe, jeden Freitag mit seinen Kumpels zu singen und zu spielen – und seinem prallen Bauch nach auch am Verzehr des Eisberg-Biers. Die Musik erinnert schwer an irische Pub-Musik, nur, dass statt Irland Neufundland in den Texten vorkommt, dazu schunkeln und klatschen die Einheimischen – und einige ausländische Besucher, die nach den Sommermonaten ganz schnell wieder verschwinden.
Go East
Wenn ich an St. John’s denke, denke ich an farbenfrohe Reihenhäuser, an den gemütlichen Naturhafen und an einen kleinen Park mit Hunde-Statuen – natürlich von einem Neufundländer und einem Labrador. Dort steht auf Tafeln viel über St. John’s Geschichte geschrieben, doch was mir in Erinnerung bleibt, ist eine Auflistung all dessen, was wir von Hunden lernen können: Wenn ein geliebter Mensch nach Hause kommt, laufe zu ihm und begrüße ihn. Wenn man dich ausgeschimpft hat, geh zurück und sei wieder ein Freund. Wenn jemand einen schlechten Tag hatte, setz dich neben ihn und hätschel ihn ein bisschen. Wenn du glücklich bist, tanz herum und wackle mit dem ganzen Körper. Erfreu dich an dem einfachen Vergnügen eines schönen Spaziergangs. Knurr nicht, wenn ein freundliches Brummen ausreicht.
Schräg gegenüber des kleinen Parks befindet sich ein Wahrzeichen der Stadt, der Signal Hill mit dem Cabot Tower, einem Turm, der 1897 zum 400. Jahrestag der Entdeckung Neufundlands durch John Cabot errichtet wurde. Bis in die 1960er Jahre beherbergte er eine Funkstation, doch heute dient er nur noch einer Ausstellung zur Geschichte des Turms und über Marconi und dessen Funkstation im Cabot Tower. Von dort hat man den besten Blick über St. John’s, über das auf einem Hügel die imposante Kathedrale wacht – und über einen Pfad, der sich schlangenartig hinab auf die grüne Felsspitze windet.
Obwohl wir angeblich nur noch 20 Minuten zur Verfügung haben, können Franziska, eine der Journalistinnen, und ich nicht widerstehen. Schon sind wir mitten auf dem steil nach unten führenden Weg, auf dem uns viele Jogger entgegenkommen. Wir sind auf dem Fitnessparcours der Einheimischen gelandet, die nach dem Bergab-Sprint in Windeseile den Weg zurück nach oben hetzen. Fast jeder von ihnen hat noch ein Lächeln und fröhliches „Good morning“ oder, im Falle der besonders Rotgesichtigen, ein „Hi“ für uns übrig.
Jedes Mal, wenn ich einen neuen Pfad begehe, zieht mich dieser magisch an. Ich will weiter, will wissen, was es um die nächste Kurve gibt, welcher Ausblick sich eröffnet. Franziska ergeht es nicht anders, und so laufen wir den N Head Trail immer tiefer hinab, bis zu The Battery, einem besonders gemütlichen, dorfähnlichen Ortsteil von St. John’s am Hafeneingang, von wo die Stadt während beider Weltkriege verteidigt wurde. Heute denkt man bei den idyllischen Holzhäuschen, vor denen sich teils Fischernetze entlangziehen, kanadische Flaggen im Wind wehen oder sich Katzen und Hunde in der Sonne rekeln, ganz bestimmt nicht mehr an Krieg.
Von der gegenüberliegenden Hafenseite aus könnte man auf dem sogenannten East Coast Trail in gut 15 Kilometern bis nach Cape Spear wandern – dem östlichsten Punkt Nordamerikas. Wir erreichen den Punkt mit Larry im Bus, der wie immer fröhlich aus dem Nähkästchen plaudert. „Am 24. Juni 1983 kamen Lady Di und Prinz Charles nach Cape Spear, und für die beiden wurden extra Toiletten gebaut. Wir nennen das heute noch den ‚royal flush‘.“ Den Namen Cape Spear – Speer – habe die Landspitze dank ihrer Form erhalten.
Am Cape Spear befinden sich gleich zwei Leuchttürme, darunter der zweitälteste Neufundlands, der 1836 erbaut wurde und aus einem Lichtturm aus Stein sowie dem Wohnhaus des Leuchtturmwächters besteht. Wie mir Victoria, die Besucher am Eingang begrüßt, erzählt, lebte hier 150 Jahre lang eine irische Familie, die Cantwells, bis der Turm in den 1990ern voll automatisiert wurde. Das Innere des Wohnhauses beherbergt noch die Einrichtung der Familie, die recht einfachen Ansprüchen genügt.
Ich würde, könnte ich hier leben, auch nicht viel brauchen. Mir genügt der Atlantik vor mir mit Irland irgendwo weit im Osten und ganz Nordamerika im Rücken. Im Ozean drehen Wale ihre gemächlichen Bahnen, um Kapelan, kleine, im nördlichen Atlantik vorkommende Lachsfische, die auf dem Speiseplan der Wale ganz oben stehen, zu fangen, und in weiter Ferne schmilzt ein Eisberg langsam in der Sonne. Ich versuche mir vorzustellen, dass diese Eisskulptur tatsächlich 10- bis 25.000 Jahre alt ist, einst aus Grönland abwanderte und sich dank der Labrador-Strömung im Monat etwa sieben Kilometer weit bewegt. Kein Wunder, dass die Eisklötze bei so viel Gemütlichkeit ein so hohes Alter erreichen!
Während die Gruppe im Leuchtturm verschwindet, mache ich mich auf den Weg in Richtung des East Coast Trails, der bis an den südlichen Zipfel der Avalon-Halbinsel führt. Am liebsten würde ich die gut 200 Kilometer weiterlaufen. Es geht über Pfade, die aus Schlamm oder zwei Holzbrettern bestehen, durch Felder und kleine Wälder voller Weihnachtsbäume, dann wieder zu den schönsten Aussichtspunkten, wo der Atlantik auf die Felsen prallt. Erneut erinnert mich die Weite der grünen Landschaft an Finnland. Und wieder hat mich der Weg in seinem Bann. Mit jedem Schritt spüre ich, wie ich etwas verbrenne. Nicht Kalorien, sondern Sorgen.
„There’s no place I’d rather be than here in Newfoundland“
Wenn man der Küste von Cape Spear immer weiter südlich folgt, stößt man irgendwann auf das etwa 960-Seelendorf Petty Harbour, übersetzt ‚winziger Hafen‘. Der Name passt. Hier gibt es außer bunten Häusern, einer kleinen Bucht und vielen Booten nicht viel, dafür aber das Wichtigste: Ein bei den Einheimischen besonders beliebtes Fischrestaurant, Chafes’s Landing. Hier probiere ich zum ersten Mal Lobster Poutine, eine kanadische Spezialität mit Pommes Frites als Basis und einer schweren Soße mit Hummerstückchen darin.
Die Portion verlangt dem Durchschnittsesser mehr als einen kleinen Verdauungsspaziergang ab – auf dem ich Billy kennenlerne. Billy der Bootskapitän sitzt vor einem weißen Holzhäuschen an einem Tisch, auf dem das beachtliche Modell eines Fischerbootes steht. Ich frage ihn, ob er es selbst gebaut habe. Er strahlt mich an, als hätte er soeben im Lotto gewonnen. Es folgt ein Redeschwall, von dem ich nicht einmal die Hälfte verstehe. Larry scheint dagegen reinstes Oxford-Englisch zu sprechen.
Stolz posiert Billy vor der Hütte mit dem Boot in den Händen und erlaubt mir, es auch einmal zu halten. „Schau mal, hier drinnen!“ Er zeigt in die Koje, wo ein Bild von einem üppigen Fischfang klebt. Er verschwindet kurz in dem Häuschen und kommt mit einem Foto zurück, das ihn vor einem Riesenhaufen Krebse auf seinem Boot abbildet. „Was glaubst du, wie alt ich bin?“ Ich schätze ihn großzügig auf 50, woraufhin er mir fast einen Heiratsantrag macht. Er zieht mich ins Innere seines Heims, zeigt mir Fotos seiner Familie und eins von ihm, das ihn bei seinem 65. Geburtstag auf dem Schiff darstellt, einen Krebs über dem Kopf.
„Seit dem Zusammenbruch der Fischerei 1992 ist es für uns schwer geworden, vom Fisch zu leben“, verstehe ich aus seinem Wortschwall und muss sofort an Brunos Briefing zum Fischerei-Stopp Anfang der 90er denken. Das Ereignis muss für Fischer wie Billy eine Katastrophe gewesen sein, doch heute ist ihm von dem Schlag nichts mehr anzumerken. „Wir investieren jetzt mehr in den Tourismus“, erzählt er mir und versucht im gleichen Atemzug, mich zu einer Bootstour zu überreden. „Das ist meine Frau“, zeigt er auf ein Pin-up-Model an der Wand. „Möchtest du mit uns eine kleine Tour unternehmen?“
Ich würde gerne, doch für uns ist bereits ein anderer Bootsausflug vorgesehen – von dem 25 Kilometer weiter südlich gelegenen Bay Bulls aus. Von dort fahren wir mit dem Katamaran der Familie Gatherall raus auf den Ozean in der Hoffnung, Wale und Papageientaucher einmal ganz aus der Nähe zu sehen. Das Boot hüpft über die immer höher werdenden Wellen in Richtung der Witless Bay Ecological Reserve. „Ein Wal“, ertönt es auf einmal von Backbord, und alle stürzen auf die linke Schiffseite. Da taucht ein Wal gerade in aller Ruhe wieder ab, irgendjemand ruft, es sei ein Minkewal. Daneben gibt es vor Neufundland häufig auch Finnwale, Buckelwale und Pottwale. Noch sieht man den anmutigen Körper des Säugers kurz unter der Wasseroberfläche, und schon ist er wieder oben, sprüht seine Fontäne in die Luft, taucht wieder ab.
„Jetzt ist die Kapelan-Saison, deswegen kommen die Wale her“, ruft der Kapitän begeistert, während die Kameralinsen ausfahren und neben dem Plätschern des Wassers nur ein ständiges Klicken zu hören ist, begleitet von A- und O-Rufen, wenn der Wal wieder auftaucht. Dann ist er plötzlich weg. „Er kann jetzt bis zu 45 Minuten unter Wasser bleiben“, verkündet der Kapitän. Die Kameralinsen fahren wieder ein – doch da ist auch schon der nächste Wal in Sicht. Nein, dieses Mal sind es gleich zwei! So nah war ich noch nie an Walen dran. Statt nur durch die Kameralinse zu starren, schaue ich mir lieber mit eigenen Augen an, wie die Rückenflossen auf- und wieder abtauchen. Einmal erkenne ich sogar die Schwanzflosse, die blitzschnell an der Wasseroberfläche erscheint und gleich wieder verschwindet. Es ist eines der faszinierendsten Schauspiele, das mir die Natur je geboten hat. Völlig unbekümmert von dem auf dem Wasser dümpelnden Boot, genießen die Säuger ihre Mittagsmahlzeit.
Bald erreichen wir die Witless Bay Ecological Reserve, die nur Wissenschaftlern mit Spezialerlaubnis zugänglich ist und ansonsten vom Wasser bewundert werden kann. Schon von Weitem hört man die Rufe und Laute unzähliger Vögel, die einen ziemlich schrägen Kanon präsentieren. „Die meisten Seevögel sind das ganze Jahr über auf See und kommen nur zwischen Mai und August an Land, um ihre Jungen großzuziehen“, erklärt der Kapitän. Die Klippen der felsigen, grünen Insel sitzen gespickt voller Vögel.
Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich einige als lustige Papageientaucher, die neugierig die Köpfe aus ihren Löchern stecken und sogleich wieder darin abtauchen. Manche setzen auch zum Flug an, um wenig später in perfekter Bruchlandung im Wasser zu enden. Eleganz geht anders, und doch zählen die Tollpatsche mit ihren orangenen Schnäbeln und Entenfüßen zu den schönsten Vögeln, die ich je gesehen habe – bisher immer nur auf Postkarten. Auf den Felsen sitzen dicht aneinander gedrängt schwarze Vögel mit weißen Bäuchen, die auch für jede Menge dunkle Flecken am strahlend blauen Himmel sorgen.
Obwohl mir der kalte Wind um die Ohren pfeift und sich meine Hände mittlerweile wie Eiswürfel anfühlen, habe ich mich lange nicht mehr so erfüllt gefühlt. Auf dem Rückweg dreht der Kapitän nochmal die Musikanlage voll auf, und die übliche irisch-neufundländische Pub-Musik beschallt uns von allen Seiten. Den meisten geht sie nach spätestens einer Minute auf die Nerven. In dem Song geht es um den Stolz der Insulaner, um die Freiheit eines Lebens am Meer. „There’s no place I’d rather be than here in Newfoundland“, spielt der Refrain. Er spricht mir aus dem Herzen.
Freizeit auf Neufundländisch – Seekajaken und Picknick mit kaltem Hintern
Es gibt Dinge, die muss man in Neufundland einmal gemacht haben, und dazu gehört Kajakfahren auf dem Meer. „Aber was, wenn ein Wal kommt und unser Boot umwirft?“, lautet eine viel gestellte Frage. Stan Cook, der braungebrannte, glatzköpfige Tourguide, der mit seinen breiten Schultern wirkt, als könnte ihn nicht mal mehr ein Eisberg bei voller Fahrt voraus erschrecken, winkt ab. „Die Tiere sind nicht dumm, die merken, wenn da was kommt und machen einen großen Bogen darum.“
Ein paar von uns sind genau wie ich noch nie wirklich Kajak gefahren. Um so dankbarer bin ich, dass ich mit Franziska in einem Zweier-Kajak lande, das sie von hinten zusätzlich mit den Füßen steuern kann. Mein Herz schlägt schneller, als uns Stan ins Wasser schiebt und wir auf einmal in der ruhigen Bucht vor Cape Broyle, südlich von St. John’s, treiben. Der Abenteuerhunger packt uns, wir ergreifen die Ruder und wollen los. Die See ist an diesem Tag ganz still und wir paddeln mit der Strömung auf bewaldete Felsen zu, vor denen Seeigel im Wasser dümpeln.
Während die anderen dort verweilen, machen Franziska und ich uns schon wieder aus dem Staub, in Richtung eines kleinen Wasserfalls zwischen den Klippen. Franziska steuert uns so nah an das rauschende Wasser heran, dass wir fast eine Dusche nehmen. Dann geht es weiter, über türkisfarben schillerndes Wasser zu einer Grotte, in die man nur gerade hinein und rückwärts wieder hinausfahren kann. Die Wände schillern pink und grün, und von oben tröpfelt es auf uns hinab. Leider sehen wir keine der Fledermäuse, die hier angeblich leben sollen.
Als Franziska und ich uns sattgesehen haben, sind die anderen längst weg. Die Stille bettet uns ein wie eine warme Decke und wir sind einer Meinung, dass wir hier nie wieder weg wollen. Noch vor einer Stunde hatte ich Sorge, ob das klappen würde mit dem Kajak, jetzt kann ich mir nichts Entspannenderes vorstellen. Weiße Felsen mit hellgrünen Bäumen darauf ziehen an uns vorbei, Seemöwen sitzen auf einem Felsen und schauen uns zu, über uns kreist ein Adler. Wenn ich das Glück in diesem Augenblick fassen könnte, wäre es eine ziemlich stille Sache und hätte eine blau-grüne Farbe.
Weder Franziska noch ich wollen aus dem Kajak aussteigen, als wir von einem Boot abgeholt werden, um nicht gegen die Strömung zurückpaddeln zu müssen. Doch das nächste neufundländische Abenteuer wartet: ein Picknick am Ferryland Leuchtturm aus dem Jahre 1870, der 1970 automatisiert wurde. Seit seiner Renovierung 2004 besteht das Innere des Leuchtturms aus einem gemütlichen Café und Restaurant, doch das würde ein Neufundländer natürlich nur in Anspruch nehmen, wenn es draußen weit mehr als schlappe „cats and dogs“ regnet oder Wind unter Orkanstärke herrscht.
Schon auf dem Weg von einem Kilometer zum Leuchtturm bläst uns eine steife Brise um die Ohren, und kurz vorm Ziel reißt es uns manchmal nahezu die Beine unterm Körper weg. Optimales Picknickwetter. Das Ganze funktioniert so: Man gibt im Leuchtturm die Bestellung auf, welches Sandwich man mit welchem Kuchen möchte, bekommt eine rote Flagge und eine Picknickdecke, und auf geht’s, den besten Picknickspot zu finden.
Am Ort der Wahl stampft man die Flagge in den Boden und wartet, bis man von oben gerufen wird. Wir Frauen lassen uns majestätisch auf unseren Picknickdecken an einer weniger als mehr windstillen Stelle nieder, einige Meter unter dem Leuchtturm vor einem Felsvorsprung. Vor uns entfalten sich ein raues, regengrünes Klippenpanorama und der ‚mighty Atlantic‘, wie ihn die schottische Gruppe Runrig in ihrem gleichnamigen Lied nennt.
Noch nie habe ich an einem so schönen Ort gepicknickt. Sogar der Wind wird zum willkommenen Bestandteil der Kulisse. Ron und Lorry, ein kanadischer Waldschrat-Look-alike, der sich an diesem Tag zu uns gesellt, holen unsere Picknick-Tabletts ab und kommen voll bepackt zurück. Zu trinken gibt es frische Limonade. Der Schinken in meinem Sandwich ist faustdick, doch nach dem Morgen im Kajak und bei diesem Ausblick würden mir sogar frittierte Kakerlaken aus Kambodscha schmecken.
Wie gut, dass ich noch ganz am Anfang des Abenteuers bin. Noch weiß ich nicht, dass mich bald die Geister Schiffsbrüchiger heimsuchen, dass ich an einem Eisberg schlecken darf – und dass ich einen unvergesslichen Kuss auf Neufundland erleben werde. Fortsetzung folgt.
Diese Reise wurde organisiert und unterstützt von Destination Canada, http://de-keepexploring.canada.travel/
mit Unterbringung in St. John’s im Murray Premises Hotel.
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