Halloween in Derry, Nordirland
Die größte Halloweenfeier der Welt?
Bei Halloween denkt man meist automatisch an die USA. Erst recht, wenn es um den weltgrößten Halloween geht. Dabei soll der im kleinen Derry in Nordirland stattfinden. Ob das stimmt?
Es ist der 28. Oktober und Freitagabend in Belfast. Ich schwanke im Nachtclub von Rita’s, einer der hippen Rooftop-Bars, zu den ohrenbetäubenden Beats irgendwelcher Mucke, zu der auch noch ein Saxophonist aus den Vollen bläst. In meinem Winterpulli und Fellschuhen wird mir heiß – ein Problem, das die in Sandalen mit Absätzen von mindestens 15 Zentimetern taumelnden, in Glanzkleidchen gepressten Mädels neben mir nicht haben. Während ich mich noch frage, ob die top sitzenden Frisuren der beiden in Wasserstoffblond wohl Perücken zu verdanken sind, fliegt mir eine abgeschnittene, blutige Hand um die Ohren. Zum Glück aus Plastik. Happy Halloween!
Der Weg raus aus dem Beat-Dschungel führt über eine düstere Hintertreppe voll mit Spinnenweben – ob echt oder aufgehängt ist schwer zu sagen –, mit fetten schwarzen Spinnen und in mancher Ecke kauernden Skeletten. Ich fühle mich an meinen Keller daheim erinnert, nur dass es hier ein paar mehr Skelette gibt. Kaum bin ich dem Treppenhaus entkommen, bauen sich zwei Rugby-schultrige Männer vor mir auf, checken, ob auch der Eingangsstempel auf der Hand noch sitzt. Zum Glück ist er das Einzige, was bei mir noch nicht verflossen ist.
Im Gegensatz zu den Einheimischen, deren Haare allesamt sitzen wie gebügelt und deren Antlitze der neuesten Vogue entschnitten scheinen. Schwitzen verboten. Die Bar scheint also zum Halloween-Aufwärmen nur bedingt geeignet. Dafür erfahre ich bald anderes Wissenswertes: Ein Northern Irish kiss dauert im Durchschnitt siebzehn Sekunden. Der Tanz von Make-up-schwangeren Belfasterinnen in den Zwanzigern sechs Sekunden. Die Sandalensaison ist bei schlappen zehn Grad draußen noch in vollem Gang. Und nein, auch das hat nichts mit Halloween zu tun.
Derry, die Halloween-Hochburg
Zeigt sich Belfast wenige Tage vor Halloween noch gemäßigt-verrückt, so laufen in Derry weiter nördlich, an der Grenze zur Republik Irland, die Vorbereitungen schon ab dem 29. Oktober auf Hochtouren. Natürlich, denn laut Garvin, Stadtführer, findet in Derry die statistisch belegte, größte Halloweenveranstaltung der Welt statt. Nicht einmal die USA sollen da mithalten können. Ich bin nicht die Einzige, die die Stirn runzelt, doch niemand wagt es, Garvin mit seinem wahrscheinlich Guinness-bedingten, rot glühenden Gesicht zu hinterfragen. Und ist es nicht letzten Endes Irland, dem der Ursprung des Halloween zugeschrieben wird? Dem Land der Feen, Leprechauns (Kobolde), der guten und bösen Geister.
Schon das Programm für den 30. Oktober füllt zwei DINA4-Seiten, reicht von Maskenmalen für Kinder über unheimliche Ausstellungen bis hin zu DEM Event am Abend: dem Erwachen der Stadtmauer, „Awakening the walls“. Was es denn genau damit auf sich habe, frage ich Garvin, dessen Wangen sofort noch feuriger glühen. „Die alte Stadtmauer ist unsere Geschichte, sie hat alles gesehen, und sie soll auch heute Teil von unserer Freude sein. Soll mitmachen.“
Denn nicht immer ging es in Derry so fröhlich und bunt zu wie jetzt. Erst 1986 sei es so richtig losgegangen mit dem Halloween, sozusagen auf dem Höhepunkt der Troubles, des Nordirland-Konflikts. Die Veranstaltungen sollten die Leute wieder raus auf die Straße bringen, die sie zuvor aus gutem Grund gemieden hatten. Und doch musste der Spaß auch immer wieder aussetzen, wenn nämlich Knaller und Raketen mit Feuer der Scharfschützen verwechselt werden konnten.
Dies erklärt, warum heute nahezu jeder in Derry mit Begeisterung bei der Sache ist und sogar die Kostüme der Erwachsenen aussehen, als wären sie nicht gerade über Nacht entstanden oder beim nächsten Supermarkt gekauft worden. Dann schlägt es endlich 18 Uhr, es geht los. Die Stadtmauer, die noch am Morgen verlassen in der trüben Sonne dalag, ist nicht wiederzuerkennen: Zum ersten Mal glaube ich Garvin, dass rund 40.000 Leute aus Derry, ganz Irland und sogar der Welt erwartet werden, und natürlich presst sich in diesem Moment jeder über die eine Meile lange Mauer.
An den Seiten stehen offene Fackeln, an denen so mancher Hintern fast Feuer fängt, Schauspieler klettern rauf und runter auf die Mauer, inszenieren Sketche. Eine Trapezkünstlerin schwingt netzlos über dem Treiben. Ein Artist bewegt sich in bewundernswerter Körperlosigkeit durch die Latten eines Käfigs – nur Bier, das trinkt keiner. Der Verkauf und Verzehr auf der Straße ist verboten, zu groß ist die Angst vor alkoholbedingten Unruhen.
In den Straßen unter der Mauer wummert die Musik, die Menschen stehen zusammengedrängt. Oben auf der Mauer schiebt sich die Nachtprozession im Schritttempo weiter. Ich lausche dem Jauchzen der Kinder, dem Gelächter und den Schreien immer anderer Künstler, die einen Funken Aufmerksamkeit erhaschen wollen. Und irgendwann malt sich trotz meiner Massen-Phobie auch auf meine Lippen von selbst ein zufriedenes Lächeln. Ganz wie das breite Grinsen der Einheimischen in ihren originellen Kostümen, die nicht nur ihr eigenes Leben für ein paar Abende zur Seite legen, sondern auch jahrzehntelange Kämpfe und Probleme, die noch immer nicht ganz im Rundordner abgeheftet sind, wie ich in Nordirland immer wieder spüre.
Der Höhepunkt
Schon am Morgen des 31. Oktober brummt Derry vor Vorfreude auf das große Finale. Ich fühle mich an meine kindliche Aufregung am Heiligabend erinnert, als ich vor der geschlossenen Wohnzimmertür stand, unter der sich ein Duft nach frischer Tanne und Wachs und versprochenen Geschenken hervorstahl. Nur, dass es an diesem Tag in Derry eher nach Blut riecht. Blutige Zombies schleichen durch die Straßen, Geister, Skelette, Krankenschwestern in äußerst knappen Outfits, Mönche, Nonnen und Kreaturen in so außergewöhnlichen Verkleidungen, dass sie nicht in ein Wort passen.
„Ich habe monatelang an meinem Kostüm gearbeitet“, erzählt mir Shannon, die ganz in Blau mit endlos langem Feder-Wimpern als Twitter-Bird auftritt. Heerscharen von Kindern stürmen den ganzen Tag über die Guildhall, wo spukige Events die Kleinen und ihre Familien auf Trab halten, ab dem frühen Arbeit rocken Konzerte den Platz vor der Halle. Sogar der Nieselregen kann den Halloween-Fans nichts anhaben: Dann verkleidet man sich eben als Qualle mit durchsichtigen Regenschirmen, von denen rosafarbene Tentakel baumeln.
Um 19 Uhr trommelt es schließlich aus den Ecken: Es ist Auftakt der ‚Out of this world Street Carnival Parade‘. Junge Männer in glitzernden Anzügen und mit Lichterketten geschmückten Trommeln ziehen durch die Straßen, locken immer mehr Schaulustige an. Und dann ist er da, der Moment, dem die Stadt seit Wochen entgegenfiebert: Über dem Fluss Foyle explodieren die Farben in einem pompösen Feuerwerk zu den Klängen der am Flussufer verteilten Lautsprecher. An die 40.000 Augenpaare starren gen Himmel, drängen sich bei dem kühlen Regen dicht aneinander, einige beginnen zu tanzen.
Natürlich ist die Schau noch lange nicht vorbei, als die letzten Funken versprühen. Die Nacht der Nächte in Nordirland ist lang – und glücklich, wer eine Karte zu einem der beliebten Bälle ergattert hat. Ich bin dabei. Ab 21 Uhr geht es los im City Hotel Derry direkt am Fluss.
Die versprochene Big Band steht auf der Bühne bereit: muskulöse Kerle, die sich für diesen Abend alle in Frauenklamotten geworfen haben und sich gegenseitig an Brustumfang überbieten wollen. Es dauert nicht lange, bis sich die Tanzfläche zu Hits der 80er, 90er und auch moderner Hits füllt. In meinem Piratenkostüm durchgeschwitzt stehe ich bald an der Getränkebar, wo ich erst einmal von einem hochgewachsenen Superman aus dem Weg geelbogt werde. Als mein Retter tut sich ein Bischof hervor, der mich weiter nach vorne schiebt, bis ich mit irgendeinem irischen Bier in der Hand dastehe.
Zurück auf der Tanzfläche stimmt die Band gerade einen Song an, den die Einheimischen mit Johlen begrüßen: ‚Rock the Boat‘. Bevor ich mich versehe, sitzen alle in Reih und Glied auf dem Boden, packen sich an den Hüften und schaukeln vor und zurück – wie bei einem vom Meer herumgewirbelten Boot eben. Während ich das Spektakel noch filmen will, ist der Bischof an meiner Seite und zerrt mich zu einer der rockenden Reihen. Ich rocke mit, vor und zurück, von rechts nach links, während Vampire, Nonnen, Römer, blutverschmierte Chirurgen und andere Fantasiefiguren den Hit mit strahlenden Augen mitbrüllen. Und auch ich kann die Zeilen bald auswendig, stimme mit ein. Bin für wenige Stunden ein Teil dieses für die Nordiren so bedeutenden Stücks Kultur. Das auch ein bisschen für den Frieden und die Freiheit des Landes steht.
Diese Reise wurde unterstützt von Tourism Ireland: www.ireland.com
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