Junge Leute sitzen an einem Tisch, um gemeinsam zu essen

Vom Schweizer Banker zum Künstler in Panama

Oder: Der große Traum vom Aussteigen

„Aussteigen“ ist längst zum Modewort geworden, das Aussteigen zum Trend. Es ist ein Phänomen einer westlichen Welt, in der alles stets schneller und besser wird oder werden muss, in der die Erwartungen steigen und die Energiepegel sinken, in der ‚Burn out‘ die neue Erkältung ist und Fortschritt das Hamsterrad. Auf fast jeder meiner Reisen, vor allem nach Asien oder Lateinamerika, stoße ich auf Menschen, die den Absprung aus diesem Hamsterrad kurz vor Schluss noch geschafft haben. Auch in Panama, auf einer der winzigen San Blas Inseln mitten im Karibischen Meer.

Wie’s der Zufall will

Es fasziniert mich immer, wie ich Menschen auf Reisen begegne. Oft handelt es sich um wenige Sekunden oder höchstens ein paar Minuten, die man an einem Ort teilt. Und selbst dann kann man die gleiche Luft atmen und einander doch nicht begegnen. Die Begegnung beginnt mit einem ersten Blick, andere Male mit einem ersten Wort. Oder mit keinem von beiden. Wie auf San Blas, wo ich eines frühen Morgens schlaftrunken in eine Hängematte sinke, um mal nicht die Morgennachrichten, sondern die aufgehende Sonne auf dem Bildschirm vor mir zu haben. Auf einmal durchbrechen Stimmen die Stille, aus dem Kiosk nebenan, wo Getränke und Essen ausgeschenkt werden.

„‘Cocina‘ heißt ‚kitchen‘ auf Englisch“, vernehme ich, dann weitere einfache Vokabeln. Wenige Minuten später gesellen sich zu den Stimmen Gesichter. Das des Inselkochs und das eines jungen, blonden Mannes, den ich auf Anfang 20 schätze. Er lächelt, grüßt. Im Gegensatz zum Alltag und den anonymen Citys, in denen wir leben, ist es in der Ferne noch okay, mit einem völlig Fremden ein Gespräch anzufangen.

Der junge Mann heißt Severin, ist Schweizer, Mitte 20, eigentlich Metallbauer, aber wirklich Künstler. Und Aussteiger. In einem Dschungelhaus bei Panama City, das sein Cousin, ebenfalls Aussteiger, gegründet hat. Bevor die Sonne so richtig über die Wolken am Horizont gekrochen ist, bin ich dorthin eingeladen.

Casa Selva, das Dschungelhaus

Man muss gar nicht so weit fahren von Panama City, und doch ist es, als wäre man plötzlich in einer anderen Welt. Einer Welt aus schmucken Einfamilienhäusern statt Wolkenkratzern und Grünflächen statt Asphalt. Und dann steht da die Casa Selva, wörtlich Dschungelhaus, wie Benjamin Bracher sein neues Heim genannt hat. Benjamin, kurz Beni, ist Severins älterer Cousin, Anfang 30 und Gründer des Künstlerhauses. Rot gestrichen, mit großem Garten voller Skulpturen, darunter eine riesige Lampe aus Metall, auf der sich Vögel niederlassen. Zum ersten Mal fühle ich mich in Panama City fern von Hektik, Stress und Geldpalästen.

Orangefarbenes Haus mit Skulpturen davor - die Casa Selva in Panama

Benjamin hat die Casa Selva gegründet.

Offener Wohnraum mit Hängematte, Boxsack und Hund auf dem Boden

So sieht eindeutig entspanntes Wohnen aus.

Metallenes Kunstwerk mit viele Drähten im Garten der Casa Selva Panama

Was dieses Kunstwerk im Garten wohl bedeutet?

Benis Geschichte ist die einer langen Reise. Weniger durch die Welt, als viel mehr zu sich selbst. Er hat den dynamischen Schritt von jemandem, der noch viel vor hat und ein Strahlen in den Augen, das eine Gewissheit verrät – dass die Füße schon mal in die richtige Richtung deuten.

„2014 kam ich als ‚Expat‘ nach Panama, als Banker“, beginnt er seine Geschichte. Für diese habe er jahrelang in der Vermögensverwaltung für lateinamerikanische Kunden gearbeitet. „Bis Sommer 2017. Und ich habe gemerkt, dass ich immer unzufriedener wurde.“ Dabei habe er finanziell trotz seines jungen Alters bereits alles erreicht und in einer Traum-Dachgeschosswohnung in Casco Viejo gewohnt, inmitten der schmucken Altstadt von Panama City, direkt am Meer. „Ich merkte, dass auch meine Kunden, überwiegend Millionäre, nicht wirklich glücklich waren. Ihnen ging es wie mir ständig nur um den Return, um noch mehr Geld. Obwohl einige davon zu Freunden wurden, musste ich sie oft zugunsten der Bank belügen.“

Dennoch habe er lange keinen Ausweg gesehen. Bis er entschied, Veränderungen an seiner Wohnung vorzunehmen und damit den chilenischen Künstler und Sänger Christian beauftragte. Es ist die Geschichte von zwei Männern, die so unterschiedlich sind wie die zwei Seiten einer Münze, eine Geschichte wie aus einem Hollywood-Film oder Roman. Christian stammt aus einem Ghetto, lebte lange Zeit von der Hand in den Mund, doch im Gegensatz zu Beni gab er seinem Leben seinen Sinn – durch seine Kunst. „Christian war unglaublich kreativ und machte immer mehr für meine Wohnung. Ich wollte schon damals raus, irgendwas anderes machen, aber ich hatte Angst vor dem Verlust von Ansehen und Sicherheit“, gesteht Beni. „Ich wollte meinen Lebensstandard nicht ganz verlieren und eine echte Alternative finden.“

Der Weg

In Panama dem Geld abschwören zu wollen ist ungefähr so, als würde man in Paris der Romantik den Rücken kehren oder in Berlin Geschichte verleugnen. Und wie bei vielen Menschen, die sich einen Umbruch wünschen, kam dieser Umbruch auch bei Beni nicht über Nacht. Und trotzdem schaffte Christian es, Beni immer weiter zu inspirieren. Als dessen Wohnung für immer mehr Kunstwerke zu eng wurde, kam ihm die Idee, in ein Haus im Grünen zu ziehen. Gesagt, getan: Ende 2016 ging es in den Stadtteil Cadenas, halb im Dschungel, in ein Mietshaus. Dorthin, wo ich jetzt sitze und einer Katze beim Schlafen zuschaue und einem Vogel beim Trinken. Und doch fuhr Beni zunächst brav weiter in die Metropole und hielt an seiner 9-5-Routine fest.

Katze schläft in einem Blumentopf

In der Casa Selva geht es allen Bewohnern gut.

Vogel trinkt von einer getöpferten Vogeltränke

Auch für die Vögel wird gesorgt.

Severin, der noch in der Schweiz lebte, erfuhr vom neuen Dschungelhaus seines Cousins. „Ich kannte meinen Cousin damals kaum, aber er galt als der erfolgreiche Banker der Familie und ich nahm Kontakt zu ihm auf.“ Ich schaue mich um, sehe das Haus, das genau den Platz bietet, den Beni in seinem Leben schaffen will. Platz für Kreativität. Für Entfaltung. Für andere Menschen. Wie Severin, der März 2017 nach Panama zu seinem Cousin zog. Auch er hatte seinen Platz im Leben noch nicht gefunden und ließ sich von Christian inspirieren, mit dem er gemeinsam an ersten Projekten arbeitete. Bis er eigene Ideen entwickelte und umsetzte.

Beni investierte einen Teil seines Kapitals für das Projekt ‚Casa Selva‘, das Künstlerhaus, und kündigte im Frühling 2017 seinen Job. „Natürlich hatte ich Angst vor der Ungewissheit“, gibt er zu, „und die Reaktionen auf meine Entscheidung waren wie eine Explosion.“ Seine Familie sei teilweise entsetzt gewesen, manch einer neidisch, aber er habe auch viel Unterstützung erfahren. „Sogar der eine oder andere 40 Millionen schwere Kunde sprach mir seine Bewunderung aus. Es tat so gut, meinen Vorgesetzten endlich die Wahrheit sagen zu können, ohne Angst vor dem Arbeitsverlust, denn der Gelddruck war auf einmal weg.“ Und je freier er sich fühlte, desto kreativer wurde auch er.

Mehr als Worte

Ich könnte stundenlang mit Beni und Severin plauschen, doch keine Worte könnten so präzise ausdrücken, was die beiden leben und erleben möchten wie die Kunstwerke, die über das gesamte Dschungelhaus verteilt sind. Das Innere ist ein einziges großes Museum, und es gibt Raum für immer neue Ideen.

Benjamin Bracher mit einem seiner beleuchteten Kunstwerke, hinter ihm an der Wand bunte Bilder

Benjamin Bracher war mit seinem Leben als Banker nicht mehr zufrieden.

Bank mit einer Art stahlerner Beine an einer Kette

Viele Kunstwerke drehen sich um das Thema „Gefesselt sein“.

Der Themenschwerpunkt liegt auf Geld. Es geht um das System, um Schein und Sein. Und ums Aussteigen oder noch mehr Ausbrechen. Rechts im Zimmer steht – wie ich es auf den ersten Blick interpretiere – ein Stein gewordener Banker. Ein gesichtsloser Körper im Anzug. „Ich habe ein altes Jackett von Benni dafür genommen“, erzählt Severin. Der metallene Anzugträger hält ein lächelndes Gesicht in der Hand, und je weiter ich mich nähere, desto mehr Gesichter erkenne ich hinter der in der Mitte geöffneten Jacke. Schmollend, verzweifelt, erstaunt, ernst. Die vielen Masken, die ein Mensch in sich trägt, doch nur eine wird öffentlich zur Schau gestellt. Meist das Lächeln.

Skulptur von einem Anzug ohne Kopf, aber der weiße Kopf wird in der Hand gehalten, aus dem Inneren strahlt Licht

Dieses Kunstwerk von Severin beeindruckt mich besonders.

Skulptur, die einen beleuchtetenInnenraum am Bauch freigibt, darin sind verschiedene weiße Gesichter zu sehen

Wahnsinn: Wenn man genauer hinschaut, gibt es im Inneren des Anzugs viele Gesichter.

Eine andere Skulptur kämpft mit Stacheldrahtzaun, die an Beinen und Füßen befestigten Seile fest im Griff, den Körper von Wunden übersät. „Der Stacheldrahtzaun ist die Komfortzone“, erklärt Beni. „Es kann verdammt wehtun, wenn man daraus ausbrechen will.“

Metallener Mensche als Skulptur, ohne Kopf, mit Stacheldrahtzaun umgeben und Fäden wie eine Marionette

Wenn der Stacheldraht die Komfortzone ist, tut es weh, daraus auszubrechen.

Mitten im Zimmer thront ein bunt angemalter Modellbau der Tower Bank in der City. Dürre Figuren kraxeln daran empor, eine wankt auf der Spitze, den Blick gen Himmel richtend. Wieder andere stehen noch am Boden, warten darauf, dass sie hochklettern und ihr Leben dem Hamsterrad widmen dürfen. Einer scheint abgestürzt oder ist freiwillig gesprungen, der Leichnam ist von einem Geldschein mit der blutroten Aufschrift ‚prosperous‘ – ‚wohlhabend‘, bedeckt. Eine weitere Figur wird von einer Kugel aus Geldscheinen überrollt. Einfacher könnte man wortlos nicht rüberbringen, wie unsere Welt tickt.

Ball mit Geldscheinen überzogen, der eine kleine Figur überrollt

Money makes the world go round?

Neben Geld bekommt auch die Liebe ihr Kunstwerk in der Casa Selva. Der Gedanke „I want love“ beherrscht den Kopf einer weiteren Skulptur, während die Arme nach Tinder, Facebook und Sex greifen.

„Wir sind jeder vollkommen frei, das zu schaffen, was wir möchten“, erzählt Severin. Auch Gast-Künstler sind in der Casa Selva herzlich willkommen, zum Beispiel Tomas, der vor meinen Augen Material mit einem Fünfdollarschein poliert, ebenso wie Couchsurfer. Alle hinterlassen am Ende an der Wand im Wohnzimmer eine kleine Nachricht. „Unser Motto ist es, zu geben ohne zu nehmen“, so Beni. „Wer möchte, kann beim Kochen helfen oder sonst etwas machen, aber es ist keine Pflicht.“ Ich frage ihn, wie er sich die Zukunft des Projekts vorstellt, denn noch verdienen die jungen Künstler nichts mit ihren Werken. Beni lächelt. „Darüber mache ich mir keine Gedanken. Ich investiere erst mal, was ich über die Jahre gespart habe, und der Rest wird sich ergeben, wenn es soweit ist. Ich glaube an das Projekt und daran, dass es für etwas, das sich so richtig anfühlt, irgendwie immer weitergeht.“

Ich schaue zu der aus dem Stacheldraht ausbrechenden Figur und zu dem maskenlos lächelnden Beni. Und stimme ihm zu. Denn wer es einmal geschafft hat, aus der Komfortzone auszubrechen, abzuspringen, auszusteigen, der kann auch eine Menge weiterer Herausforderungen packen. Oder?

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