Auf der Suche nach dem (Nord)licht in Schwedisch Lappland
In einem Jahr wie 2020 werden viele von uns nach irgendeinem Licht suchen. Nach Licht am Ende des Tunnels, und wer gerne reist, wartet auf grünes Licht fürs Reiseziel. So schaffe ich es im Herbst vor Ausweitung der Risikogebiete gerade noch in den hohen Norden. Mit ebenso hohen Erwartungen, erstmals im Leben nachts grüne Lichter über den Himmel flackern zu sehen. Denn was könnte mir Schwedisch Lappland sonst schon bieten?
Vor meiner ersten Reise in den hohen Norden mache ich zwei Fehler: Erstens schüre ich zu viele Hoffnungen. Das Programm für Schwedisch Lappland im Herbst umfasst „Nordlichtbeobachtung“, also haben da bitteschön auch Nordlichter zu sein! Und zweitens vergesse ich für kurze Zeit, dass meistens, wenn ich A suche, sich dieses hartnäckig versteckt, ich aber dafür auf B stoße. Vielleicht zusätzlich sogar auf C oder D.
„Ab wie viel Uhr kann man die Nordlichter denn ungefähr sehen?“, frage ich den Autovermieter voller Begeisterung, der mich mit hängenden Mundwinkeln ansieht. Er grunzt etwas, dann ist er mit seinem eigenen Auto davongebraust, noch bevor ich meinen Koffer in den Mietwagen vorm Flughafen von Luleå verfrachtet habe. Für den Mann ist um 16 Uhr Feierabend, für mich der perfekte Moment, mein Nord-Abenteuer zu beginnen. Noch wurde die Uhr nicht umgestellt, noch ist die Dunkelheit bis zum späten Nachmittag gnädig. Noch schenkt mir die Sonne ein Ankommen in Schwedisch Lappland wie im Rampenlicht. Grell und blendend leuchtet sie alles aus, was ihr unterkommt, als müsste sie noch einmal ihre Kraft beweisen, bevor sie im Winter nicht mehr viel zu melden hat. Doch dann, gefühlte Minuten später, endet sie ihre Taktik. Legt ihr gleißendes Power-Outfit ab, wird ganz sanft und weich. Bereit, der Landschaft und den hineingewürfelten roten Häuschen mit orangefarbenem Lippenstift einen Gute-Nacht-Kuss aufzuhauchen, bevor sie hinterm Horizont verschwindet.
Ich steuere den Wagen Richtung Nordosten und staune. Wegen dieses Lichts. Wegen dieser Leere. Wegen der fast autofreien Straße vor mir, der nur ein Schild fehlt: „Ende der Welt immer geradeaus“. Mein Fuß wiegt schwer auf dem Gaspedal, der andere tappt im Rhythmus meiner Lieblingsmusik auf den Boden. Im Rückspiegel verwandelt sich die Sonne in einen Feuer speienden Ball, während sich die Wattewolken vor mir pink-violett verfärben. Selbst wenn ich mitten auf der Autobahn anhalten könnte, wäre es sinnlos – es gibt Schönheit, die ist zu mächtig, um auf ein Foto zu passen. Und genauso gibt es Glück, das zu groß für Worte ist. Freiheit, die zu weit reicht, um sie mit wenigen Buchstaben einzufangen. Beide verspüre ich in jenem Augenblick, irgendwo on the road zwischen Luleå und Kalix.
Eis und Licht
Als ich im vor zwei Jahren eröffneten Ice & Light Village in Kalix ankomme, begrüßt mich Besitzerin Maarit Lindvall wie eine alte Freundin. Als wäre das nicht schon genug, ist meine Glücksblase bald nicht mehr abstrakt, sondern nimmt die Form eines Iglus an. Eines Glas-Iglus mit Fußbodenheizung und schummrigem Licht, mit Fellen auf dem Bett, Weitsicht über den Kalix River und nach oben in den Himmel. „Damit du die Nordlichter auch vom Bett aus sehen kannst“, zwinkert Maarit. Zum ersten Mal sehe ich eine umweltfreundliche Verbrennungstoilette, in die man eine extra dafür gemachte, spitze Tüte steckt, sein Geschäft erledigt und wie beim WC abzieht – nur, dass dieses clevere Klo alles sogleich verbrennt. Wahnsinn! Echtes Iglu-Feeling mit Wärme, Toilette und Bad – und einem kleinen Kühlschrank voller Leckereien fürs Frühstück, um morgens den Blick aus dem Bett schlemmend zu genießen. Dann ist da noch die kleine Pralinenschachtel auf dem Bett, gefüllt mit sechs handgemachten Arctic Treats aus der Schokoladenmanufaktur von Åsa Andersson-Ulvede auf der anderen Flussseite. Pralinen, die alle Geschmacksnerven explodieren und mich vergessen lassen, dass ich eigentlich gleich zu Abend essen wollte.
Damit ich mich nicht einsam fühle, geht Maarit einfach mit mir ins Restaurant. Ihr Mann darf uns fahren, damit wir Ladies mehr Wein trinken können, und uns Stunden später wieder abholen. Viel zu lange habe ich sie nicht mehr gespürt, die Freundschaft einer völlig Fremden, die sich schnell vertrauter anfühlt als jahrelange Bekannte. Ich erfahre, dass es die Idee von Maarits Schwester war, die Komfort-Iglus – mal nicht aus Eis – zu bauen, und dass sich bei ihr jeder Gast individuell aufgenommen fühlen soll. Willkommen. Um umgeben von Natur vom stressigen Alltag abzuschalten.
Ich schlemme „Kalix löjrom“, Weißfischrogen, eine offiziell geschützte Delikatesse aus Kalix, die im September und Oktober gewonnen wird. Zusammen mit Crème fraiche und kleingehackten Zwiebeln kommt die orangefarbene Creme auf Brot oder spezielles „tünnbröd“, hauchdünnes Knäckebrot. „Der „löjrom“ kostet 160 Euro pro Kilo, und wenn du siehst, in welcher Kleinstarbeit er gemacht wird, verstehst du auch, warum“, klärt mich Maarit auf. Bei dem Stichwort kommt ihr eine Idee: „Es gibt hier ein Paar, die wollen eine „Kalix löjrom-Safari“ anbieten, damit die Leute sehen, wie der Weißfisch gefischt und der Fischrogen in der Fabrik per Handarbeit gewonnen wird!“ Sie braucht mich nicht zwei Mal zu fragen, ob ich mir das ansehen will.
Schweden aus dem Bilderbuch
So bringt mich Maarit am nächsten Morgen – nach einer Nordlicht-losen Nacht, aber gut, in der nächsten wird’s bestimmt klappen – zu einem kleinen Hafen, wo Niklas auf mich wartet. Der 43-jährige, eigentlich Polizist, und seine Frau bieten die Löjrom-Safari unter ihrem Label „Cold Adventures“ ganz neu an, und ich darf Versuchskaninchen spielen. Obwohl die echte Eis-Zeit noch Wochen entfernt ist, stattet mich Niklas mit Latzhose, Strickjacke, Daunenjacke, Yeti-Stiefeln, -handschuhen und -mütze aus, denn wenn mal jemand aus dem tiefen Süden vorbeikommt, geht man in Lappland besser auf Nummer sicher. Dann brausen wir in seinem Boot hinaus aufs Meer. Die Ostsee spritzt mir ins Gesicht, schmeckt gar nicht salzig, und ich denke an Maarits Worte: „Genieß einfach die Natur, atme, lass es ruhig angehen.“ Die Sonne spiegelt sich grell auf dem ruhigen Meer und ich recke ihr mein Gesicht entgegen, diesem einmaligen Licht, das jede Pore mit Zufriedenheit füllen will.
„Zum Weißfisch-Fischen fahren immer zwischen Sonntag und Donnerstag zwei Boote raus, von sieben Uhr morgens bis 14 Uhr, was nur an 15 bis 20 Tagen pro Jahr geht“, erklärt Niklas. Man bräuchte 250 der kleinen Fische, um ein Kilo Rogen zu erhalten. Als wir hungrig werden, halten wir an der Insel Rånön und Niklas stiefelt mir voraus zu seiner Stuga, seinem roten Sommerhäuschen. Im Inneren, dem Wohnzimmer mit rosa Blümchentapete und rosa Tischdecke, heizt Niklas den Ofen ein. Fehlen nur noch Pippi Langstrumpf, ein Pferd und ein Affe.
Dann zergeht mir zum zweiten Mal der sonnenuntergangsfarbene „löjrom“ auf der Zunge, ganz fein, unheimlich salzig. „Wenn er nach Fisch schmeckt“, dann ist er nicht gut“, behauptet Niklas. Als Hauptgang grillt er im Garten Dutzende der silbernen Weißfischchen, die mich an Sardinen erinnern – und auch ein wenig so schmecken, als wir sie wenig später zusammen mit Butter und Kartoffeln in einen Wrap rollen. Und zum Nachtisch gibt es selbstgebackenen Schokokuchen von der elfjährigen Tochter.
Was mich nicht davon abhält, vor meiner Weiterfahrt zusammen mit Maarit noch bei Åsas Schoko-Café in Kalix vorbeizuschauen und reichlich arktische Schokolade für unterwegs mitzunehmen. Und für zu Hause, für die sicher nahenden, schlechten Zeiten. Denn dank Åsa kann ich auch zurück im Süden noch ein wenig Lappland schmecken – in Form von Kräutern und Beeren, die sie von den Bergen bis zum Meer selbst gesammelt und auf einer Tafel Schokolade verteilt hat.
Baumleben
Ich gehörte nie zu den Kindern, die in einem Haus mit Garten und Bäumen und womöglich noch einem Baumhaus aufwuchsen. Überhaupt stieg meine Lust auf die Natur und auf das Leben in der Natur erst im Laufe der Jahre, mit vielen Reisen. Mit Naturerlebnissen, die mich mit Schwermut erfüllten, wenn ich diese Orte wieder verlassen und in Städte voller Asphalt, Beton und Abgase zurückkehren sollte. Und so freue ich mich riesig auf eine Nacht in einem echten Baum-Hotel, dem Treehotel in Harads, das sich mittlerweile zu eine Legende Schwedisch Lapplands entwickelt hat. Es war die Idee eines Ehepaars – er Berater, sie Krankenschwester – in ihrer geliebten Stadt und Natur besonders naturnahe und umweltfreundliche, aber dennoch luxuriöse Unterkünfte zu schaffen. Also verwandelten Kent Lindvall und Britta Jonsson-Lindvall das, was für die meisten am Anfang nach Spinnerei geklungen haben muss, in einen vollkommen verspiegelten Würfel zwischen den Stämmen hoher Kiefern, in ein feurig rotes Baumhäuschen, in ein überdimensionales Vogelnest sowie in vier weitere „Zimmer“.
Um das gemütliche Gasthaus selbst und Restaurant zu erreichen, steht ein obligatorischer Spaziergang durch den Wald an. Fast stolpere ich über jede Wurzel am Boden, denn mein Blick ist gen Himmel gerichtet. Auch wenn mir die Einheimischen, die per Aurora-App checken, wann die größte Nordlicht-Wahrscheinlichkeit besteht, für die ganze Woche keine Hoffnung gemacht haben, will ich mich nicht geschlagen geben. Es kann doch wohl nicht sein, dass sich für mich nicht ein einziges, schlappes grünes Licht am Himmel zeigt? Wo ich es mir nach einem Jahr voller gesundheitlicher und beruflicher Probleme so sehr verdient habe?
Als der Himmel nach dem Abendessen weiterhin schwarz bleibt und sich auch während eines letzten Spaziergangs vor dem Zubettgehen partout nicht verfärben will, werde ich missmutig. So eine Schweinerei! Ich starre in den Himmel, bis mein Nacken schmerzt. Grunze den Milliarden von Sternen entgegen. Und da ist ja auch noch die Milchstraße, die ich schon zig mal gesehen habe. Und vier Sternschnuppen. Langweilig! Milliarden von Sternen. Milchstraße. Sternschnuppen. Absolute Stille um mich herum. Klare, kalte Luft. Weite. Freiheit. Es ist, als gäbe mir ein Wald-Kobold eine schallende Ohrfeige, und ich lache laut los. Bin ich wirklich so bescheuert? So versteift auf meinen alles überwiegenden Nordlicht-Traum, dass ich blind und unempfänglich bin für die irrsinnige Schönheit, die mich auch ohne die grünen Schweife umgibt? Ich bleibe noch lange dort, irgendwo im Wald, tanze im Kreis oder stehe stumm und lasse keine Sternschnuppe verglühen, ohne ihr nicht einen Wunsch mit auf den Weg zu geben. Und keiner davon hat mit Nordlichtern zu tun.
Die Husky-Insel
Es tut mir leid, mein kleines rotes Haus in den Bäumen wieder zu verlassen – bis ich mein nächstes Ziel erreiche, die Insel Hindersön im Luleå-Archipel, die aus etwa 1300 Inselchen besteht. Dort haben die Schwedin Susanne und ihr Partner Eric aus Alaska Anfang 2020 Jopikgården übernommen, ein altes Bauernhaus, in dem sie nun Unterkünfte vermieten. Eric holt mich im Motorboot vom Hafen ab und wieder überkommt mich das Gefühl, mit einem alten Kumpel unterwegs zu sein. „Wir müssen uns hier immer der Natur anpassen“, erzählt er mir auf der etwa halbstündigen Fahrt hinaus ins Archipel. „Im Winter ist die See zugefroren, dann wird für uns und die anderen Inselbewohner ein Weg von Insel zu Insel übers Eis gebahnt, den wir mit Schneemaschinen und sogar mit einem Auto befahren können!“ Aber es gebe auch eine Zwischensaison mit zu viel Eis, um mit dem Boot zu fahren, was aber andererseits noch nicht fest genug sei, um darauf zu fahren. „Dann sind wir eben abgeschnitten und müssen uns vorher genug Vorräte zulegen. Wir fangen gerade damit an.“
Doch Eric und Susanne sind nicht alleine nach Hindersön gezogen, sondern mit ihren elf Huskies, die mich auf der Insel mit freudigem Bellen und Heulen begrüßen. „Wir sind die wohl einzige Husky-Farm auf einer Insel in Schweden“, berichtet Susanne stolz, und bei einem gemeinsamen Spaziergang davon, wie sie als Landmädchen eigentlich immer in der Stadt leben wollte, nie so weit draußen in der Natur. Bis sie mit Eric zusammenkam. Bald kenne ich die außergewöhnliche Liebesgeschichte der beiden und die nicht minder spannende Story, wie sie zu so vielen Huskys gekommen sind. Jede von uns hat einen der gerade mal sieben Monate alten Welpen um die Hüfte geschnallt und wird von ihm durch den Wald gezerrt. Immer wieder erlebe ich Nah-Crash-Erfahrungen mit diversen Bäumen, andere Male muss ich wenige Meter vor der kalten Ostsee mit den Hacken tief im Sand auf die Bremse gehen, um kein Herbst-Bad zusammen mit dem Husky zu nehmen. Kostenloses Beine-Po-Training Hindersön-Style. Am Ende bin ich genauso geschafft wie die Tiere.
Abends sitzen wir an der kleinen Feuerstelle am Hafen zusammen und Eric bringt mir bei, mit Metallstift und Messer Feuer zu machen. Je hungriger ich werde, desto besser springt der Funke auf das trockene Holz über. Dann grillen wir Rentierfleisch und trinken Wein aus der Pappe, der nicht besser schmecken könnte. Wie stets alles, was ich unter freiem Himmel esse und trinke. Der Pappwein ist mir schon ordentlich zu Kopf gestiegen ist, als Susanne und ich später drei Stunden in der winzigen, für alle 15 Inseleinwohner nutzbaren Sauna sitzen, die mit Holzscheiten befeuert wird. Susanne hat überall Kerzen aufgestellt und wir plaudern, als kennten wir uns schon ewig. Bevor ich an diesem Abend neben Husky-Hündin Juna ins Bett falle, schaue ich noch einmal in den Himmel. Wieder keine Nordlichter. Nur Milliarden von Sternen. Und diese wahnsinnige „Freude im Bauch“, wie ich sie als Kind immer nannte, die im Gegensatz zu den Nordlichtern gar nicht auf meiner Bucketlist stand. Aber manchmal ist B vielleicht doch keine schlechtere Wahl als A, auch wenn ich immer wieder etwas Zeit brauche, um das zu begreifen.
Diese Reise wurde unterstützt von Visit Schweden und Swedish Lapland. Tack så mycket 😊