Montenegro – von den Bergen ans Meer
Europas kleine, wilde Schönheit
Montenegro – ein verschwindend kleiner Fleck auf der Landkarte, irgendwo an der Adria. Doch bekanntlich sollte man das Kleine nie unterschätzen. Schon gar nicht Montenegro, das mit Superlativen nur so um sich schlägt: eins der kleinsten und ältesten Länder Europas. Mit Kotor, einer der schönsten Buchten weltweit und dem südlichsten Fjord. Mit Lake Skadar, dem größten See des Balkans. Biogradska Gora, einem der letzten Urwälder Europas. Und dem Tara-Canyon, dem tiefsten Canyon Europas und angeblich zweittiefsten der Welt. Ich mag das Wilde und das Schöne. Und werde um ein Haar von ihnen entführt.
Der schlafende Gott
Nein, Montenegro besteht nicht nur aus ein paar Badeorten an der Küste südlich von Dubrovnik. Der größte Teil des Landes besteht vor allem aus Bergen – und aus fünf Nationalparks. Wenn Montenegro das Land der Superlative ist, dann ist der Durmitor, übersetzt in etwa „wo Gott schläft“, der Alpha unter den Nationalparks. Wenn Gott in Frankreich lebt und in Montenegro schläft, dann hat er sich hoch oben im Nordwesten des Landes tatsächlich ein gemütliches Plätzchen ausgesucht: umgeben von 48 Gipfeln über 2.000 Meter – darunter der höchste Berg Montenegros, Bobotov Kuk, mit 2.522 Metern –, von der Tara-Schlucht, der tiefsten Europas, und von 18 Gletscherseen, Bergaugen genannt.
Wäre ich Gott, würde ich mich direkt am größten See niederlegen, am Crno Jezero, in dem sich an klaren und windstillen Tagen der Gipfel des Berges Međed mitsamt den umliegenden Wäldern spiegelt, denn Schönheit doppelt zu sehen bleibt definitiv länger auf der Linse. Und doppelt ist auch der Schutz, den der Durmitor-Nationalpark zugestanden bekam: Zunächst wurde nur der Tara-Canyon unter Naturschutz gestellt, und seit 1980 gehört der Park auch zum UNESCO-Weltnaturerbe.
„Hier in den Nationalparks von Montenegro ist alles noch in der Entwicklung“, weiß Dr. Thomas Wöhrstein, der seit vier Jahren in Montenegro als Tourismusberater für Schutzgebiete tätig ist. „Der Eintritt in den Durmitor-Nationalpark kostet gerade mal drei Euro, denn der durchschnittliche Montenegriner verdient 450 Euro im Monat, und wir möchten noch mehr Einheimische zum Herkommen bewegen.“ Auch wer im Hochsommer im Durmitor-National wandert, begegnet meist stundenlang niemandem. Wieso, wenn er doch so schön und noch dazu günstig ist? Weil kaum jemand davon weiß, alles noch in der Entwicklung steckt und es keine großen Marketingkampagnen gibt, um Massentourismus zu fördern.
Ich fühle mich an den Kosovo erinnert, wo ich nie einem anderen ausländischen Touristen über den Weg lief. Ein Land, das ich für Europas letzte Wildnis hielt. Aber anscheinend gibt es noch eine. „Da so wenige Leute kommen, haben wir auch kein Problem mit Naturzerstörung. Die Besucher sind erstmal beschäftigt genug mit den 25 markierten Bergwanderwegen, die es gibt, und Erosionsprobleme haben wir auch nicht, denn im Karst versickert das Wasser schnell.“ Der Zukunft der montenegrinischen Nationalparks sieht Wöhrstein hoffnungsvoll entgegen. „Es bringt eh nichts, sich jetzt zu sorgen – die Montenegriner kümmern sich immer erst dann um ein Problem, wenn es da ist.“ Weise Worte. Die ich bald in die Tat umsetzen soll, denn dort, wo ich es am wenigsten erwarte, stehe ich bald vor einem Problem.
Freifahrt nach Bosnien-Herzegowina
Wenn es Touristen in den Durmitor-Nationalpark verschlägt, dann eher zum Rafting auf dem Tara-Fluss als zum Wandern. Eigentlich wäre Canyoning angesagt gewesen, wobei man in allen möglichen Formen eine Schlucht begeht, von Felsen springt und sich immer weiterkämpft, doch das ist wegen zu hohen Wasserstrandes Anfang Juni noch nicht möglich. Stattdessen ist Wildwasserfahren an der Reihe. Das habe ich schonmal gemacht. 2002 in Costa Rica, wobei ich als Erste über Bord ging und in einen Strudel geriet, aus dem mich jemand mit einem Ruder im letzten Moment herausfischte. Wilde Flüsse und ich, das war noch nie die große Liebe. Eher eine ungestüme. Aber ich gebe dem Tara eine Chance.
Guide für die Wildwassertour ist Danilo von der Tourismusbehörde. „Wir fahren heute den landschaftlich schöneren aber ruhigen Abschnitt“, erklärt er mit Bedauern. Am spannendsten sei der „Adrenalin-Teil“ zwischen Brštanovica und Šćepan Polje mit den meisten Stromschnellen – auf 18 Kilometern stößt man auf 15, 20 oder mehr sogenannte Buk, Formationen im Flussbett, wo die Stromschnellen entstehen. Das Aufregende dabei: Verändert sich der Wasserspiegel, erscheinen plötzlich völlig neue Buk, was die Fahrten unberechenbar macht. Die Boote können dabei Geschwindigkeiten bis zu 30 Kilometer die Stunde erreichen.
Im Catsuit und mit Helm ausgestattet geht es ins Gummiboot und raus auf den rasenden Fluss mit seinem karibisch türkisfarbenen Wasser. Die Sonne lacht, alle Bootsinsassen auch, nur Danilo wünscht sich mehr Action, die Stromschnellen sind ihm zu lahm, dafür aber die bewachsenen, hohen Felswände umso atemberaubender.
In einer Bucht steigen wir aus, folgen dem Fluss zu einer von zahlreichen Quellen und trinken. Eiskalt ist es, das Wasser, und so klar und frisch, dass ich am liebsten einige Flaschen davon abfüllen und mitnehmen würde. Aber ich habe keine Flaschen und auch keine Zeit, der Fluss ruft uns zurück. Wenig später versteckt sich die Sonne hinter dicken Wolken, ein paar Tropfen fallen, und auf einmal schimmert der Fluss nicht mehr freundlich klar. Dunst steigt auf, legt sich wie eine Nebelschicht übers Wasser, und wir fahren geradewegs hinein in den Schleier, der uns mit seinen kühlen Nebelfingern berührt.
Viel zu schnell ist die Tour vorbei, doch Danilo ist noch nicht zufrieden. „Ihr könnt eine Runde im Fluss baden. Wir werfen uns hier ins Wasser und lassen uns mit den Schwimmbesten bis um die Kurve treiben.“ Ich schaue auf das schäumende Wasser. Da ist nicht nur die Sache mit dem Wildwasserfahren in Costa Rica. Da ist auch noch eine Flusserfahrung 2011 in Frankreich. Als mich ein Fluss mitriss und erst wieder freigab, als ich mir schon an spitzen Steinen den Bauch aufgeschlitzt hatte. Aber Traumata sind dazu da, sie zu überwinden. Jetzt, im Tara-Fluss. Ich stürze mich hinein. Liege auf dem Rücken auf dem Wasser, die Beine nach vorne gestreckt, und der Fluss trägt mich wie eine Ente. Das macht richtig Spaß.
Wo sollten wir nochmal rausschwimmen? Als ich die anderen an Land sehe, ist es zu spät. Dieser Moment, wo es leicht gewesen wäre, raus zu schwimmen, ist vorbei. Die Strömung hat mich in ihren aufgewühlten Klauen. Next stop Bosnien? Ach du Scheiße! Ich denke an Frankreich, an spitze Steine. Zum Glück trage ich noch den Catsuit. Und Gummilatschen. Und Helm und Schwimmweste. Ich stemme die Füße gegen einen dicken Stein im Wasser, klammere mich an einem anderen fest. Irgendwann spült Danilo mir nach. Versucht, mich aus der Strömung zu zerren, doch meine Beine streben weiter Richtung Bosnien. Nach einer gefühlten Stunde ist es geschafft. Wir stehen an Land. Erschöpft.
Die anderen starren mich an, die Mienen voller Sorge. „Wolltest du etwa ohne Pass nach Bosnien reisen?“, lautet der Scherz. Und ich habe einen guten Grund, mir schon zur Mittagszeit zwei Rakia – Schnaps und für die Montenegriner Flüssignahrung wie Bier für Deutsche – in den Rachen zu kippen. Als wir wenig später auf der 150 Meter hohen und 350 Meter langen Đurđevića-Tara-Brücke stehen und von kurz daneben über den Fluss ziplinen, scheint der Schreckensmoment schon ein ferner Albtraum. Die Sonne blitzt wieder hervor, die wütenden Wassermassen sind zu weit entfernt, um mir noch etwas antun zu können. Nein, mit mir und Flüssen, das wird wohl nichts mehr. Was mit Rakia schon ganz anders aussieht.
Überraschungsfahrt Durmitor-Ring
Rund um den Durmitor-Nationalpark führt der Durmitor-Ring, eine circa 80 Kilometer lange Traumstraße. Die Straße ist in etwa so, wie man es von einer Bergstraße erwartet – meist steil und direkt am Abhang schwebend. Wer im Uhrzeigersinn fährt, kommt zunächst an Zabljak vorbei, einem beliebten Urlaubsort der Montenegriner, über den Sedlo-Pass und vorbei am höchsten Berg Bobotov Kuk. Die Berglandschaft und rollenden Wiesen erinnern mich teils an die Alpen, doch die spitzen und steil abfallenden Dächer sind anders als bei Alpenhäusern. Sie haben die Dreiecksform, damit der Schnee im Winter leicht runterrutschen kann, denn der Durmitor-Ring ist meist erst ab Mai schneefrei. Außer den Dreieckshäuschen gibt es nicht viel. Sie wirken mit ihren roten oder hellen Dächern wie verkleckerte Farbe auf einer Landschaftsmalerei.
Manchmal geht es vorbei an kleinen Höfen, wo Gemüsebeete auf abgetragenen Felsen angelegt wurden. Dann durch eins der höchst gelegenen Balkandörfer, Mala Crna Gora. Nach einem Snack mit Schinken, Käse und Brot und zurück auf der Straße wandelt sich die Landschaft langsam, es wird karger, rauer, als würden dem Maler die sanften Farben ausgehen. Und dann thront er mitten im Karstgestein genau vor uns: der Sedlo Berg mit 2.227 Metern Höhe, übersetzt „Sattel“. Und wie ein Sattel sieht er mit seinen zwei Höckern auch aus. Unzählige Schafe punkten die grünen Wiesen, dann wieder Hütten aus dunklem Holz – sogenannte Katun, Schutzhütten für Schäfer.
Im Dschungel
Es dauert nur ein paar Stunden Fahrt und man ist von der schroffen Bergwelt auf einmal im Dschungel – im ältesten Nationalpark, dem Biogradska Gora weiter östlich, zwischen den Flüssen Tara und Lim. Ja, tatsächlich: Hier gibt es noch einen echten Urwald von 1.600 Hektar, teils undurchdringlich, mit 16 verschiedenen Wald- und über 220 Pflanzenarten, darunter 86 Arten von Bäumen. Einige sind an die 60 Meter hoch, manche über 400 Jahre alt. Mitten im Nationalpark ruht der Gletschersee Biogradsko Jezero. Wie schnappen uns eins der zu mietenden Paddelboote und rudern weit hinaus. Im tiefgrünen Wasser spiegelt sich der Urwald, und das Wasser ist so still, dass man sich dafür entschuldigen möchte, es mit dem Paddel aufzuwühlen. In der Ferne rummelt es, doch selbst das Unwetter traut sich nicht so recht, die Idylle zu zerstören.
Zum Mittagessen um 17.30 Uhr im Restaurant Lovački Dom in Trebaljevo gibt es nach Rakia als Vorspeise – dieses Mal Šljiva, einen speziellen Traubenschnaps aus dem Dorf Trebaljevo – auch die Crème de la Crème der montenegrinischen Bergspezialitäten: Kačamak, montenegrinische Polenta aus Mais- oder Weizenmehl und einem speziellen Käse, das lange Zeit ein Essen für arme Leute war. Arm oder reich, nach einer Portion sind alle gleich, denn keiner kann sich mehr bewegen. Habe ich bisher zu fast jeder Mahlzeit ćevapi, Hackfleischröllchen, oder sonstige Art von eher trockenem Rindfleisch gegessen, gibt es nun Wild vom Feinsten. Neben einem Nikšićko pivo, dem Hauptbier Montenegros aus der Brauerei im Bergdorf Nikšić, kommt zusätzlich Kiselo Mlijeko auf den Tisch, ein köstlicher Jogurtdrink – na dann mal „živjeli!“ Prost!
Um in dem Restaurant für 40€ mit vier riesigen Portionen Kačamak versorgt zu werden, ruft man etwa eine Stunde vorher an und bestellt den Dickmacher, der einige Zubereitungszeit braucht. Und wenn man nicht Montenegrinisch spricht? Danilo lacht: „Dann rufst du mich an und ich bestelle für dich.“ Ein Tässchen domaća kafa, türkischer Kaffee, bei dem wie immer am Boden noch reichlich Kaffeesatz übrigbleibt, aus dem man lesen kann, soll die Verdauung in Schwung bringen. Was nur bedingt klappt, aber besser wässriger Kaffee als noch ein Rakia – denn wer danach an der Autobahn noch beim Aussichtspunkt über dem Mrtvica-Canyon anhält, sollte besser nicht schwanken.
Der Große
Ohne See kein Nationalpark, könnte man in Montenegro meinen, und tatsächlich ist der Skadarsee nicht nur der größte des Balkans – zu zwei Dritteln auf montenegrinischem Staatsgebiet, zu einem Drittel auf albanischem – sondern der Skadarsee-Nationalpark auch der größte des Landes. Das Besondere daran: Der Seegrund befindet sich teils unterm Meeresspiegel. Hier stehen nicht Berge, sondern ganz einfach der See im Fokus allen Interesses, und was lässt sich darauf schöner unternehmen als ein Bootsausflug? Ab Virpazar geht es vorbei am sumpfigen Ufer mit überwiegend breitem Schilfgürtel, aber auch mit vielen kleinen Buchten, Halbinseln und Landzungen. Verschiedene Vögel stellen sich zur Schau, doch die hier unter anderem ansässigen Pelikane und Kormorane wollen sich nicht zeigen.
„Am Skadarsee wurde Montenegro gegründet“, erzählt Guide Andri von der montenegrinischen Tourismusbehörde auf dem Boot, das in Richtung des malerischen Dorfes Rijeka Crnojevica mit Steinbrücke und schmucken Häusern mit roten Ziegeldächern schippert. „Die Familien Crnojevic und Petrovic sind die beiden Familien, die Montenegro um 1490 gegründet haben“, weiß Andri. „Die Crnojevic blieben nicht lange an der Macht, während die Petrovic sich über 220 Jahre hielten und auch geistliche Oberhaupte stellten.“ Auch damals habe das Land schon Crna Gora geheißen – Schwarzer Berg. Alles sei schwarz gewesen – die Berge, Seen und sogar die Weine. „Lange Zeit nannte man Rotwein sogar schwarzen Wein, cirno vino. Es waren die Italiener, die unserem Land den Namen Montenegro gaben – sie kamen von der Küste und sahen schwarze Berge.“
Wem es auf dem Boot zu langweilig wird, der kann schnell mal in ein Kajak springen und selbst rudern. Oder in den warmen See und sich bestmöglich abkühlen. Wobei man kleine Fische unter sich herumschwimmen sieht, von denen manch einer später auf dem Teller landet – vor allem Karpfen oder Aal, die es im See reichlich gibt. Nach dem deftigen Bergessen mit viel Fleisch und Kačamak flutscht der Fisch wie Diätkost die Kehle hinunter. Was für eine Wohltat! Und was für ein Luxus, die Vielseitigkeit Montenegros nicht nur zu sehen, sondern auch zu schmecken.
Ab nach Süden
Ein Großteil von Montenegros Küste ist mittlerweile überlaufen. Budva mit seinem großen Unterhaltungsangebot. Auch Kotor mit seiner Traumbucht, hinter der man mit dem gebührenden Traumblick in den umgebenden Bergen wandern kann, wird von unzähligen Kreuzfahrtschiffen angelaufen, die ihre Ladung ständig über das Städtchen auskippen. Das ist in Ulcinj anders. Ganz im Süden, dort, wo Albanien schon in der Luft liegt und sich Moscheen mit Kirchen abwechseln. „Die Sonnenseite der Welt“ preisen Broschüren das Städtchen an, das bereits zweieinhalbtausend Jahre auf dem Buckel hat – und das sich seinen Alterssitz mit jeder Menge Sonnenschein versüßt. Genau wie Korsika kann sich Ulcinj damit rühmen, oft erobert aber niemals unterworfen worden zu sein.
Was ich auch für mich behaupten kann, als ich mit meinem Mietwagen von Podgorica nach Ulcinj brause. Die Verkehrsregeln vor Ort habe ich schnell raus: Im Kreisverkehr gilt „der Schwächste bremst zuerst“, Blinker sind überbewertet und man hilft dem Hintermann beim Training seiner Reflexe, indem man beim Abbiegen ohne Blinken eine Vollbremsung einlegt. Im Dorf angekommen, presst man sich in die engste Gasse, schürft knapp an den Souvenirständen vorbei und freut sich, wenn herauskommt, dass die Straße doch keine Einbahnstraße ist, sondern auch noch Gegenverkehr anrückt. Entlang des Skadarsees passiere ich viele Tische, wo Frauen Karpfen zum Verkauf hochhalten, doch mir steht der Sinn nicht nach Karpfen. Stattdessen halte ich an einem Flachbau, der wie eine Bäckerei aussieht, und decke mich mit allerlei Fettgebackenem fürs Strandpicknick ein. Die etwa siebzigjährige Verkäuferin lacht über meine paar Brocken Montenegrinisch. Egal, jetzt brauche ich nur noch einen kühlen Drink. Sie lacht wieder, zeigt auf einen Kühlschrank, der vollgestopft ist mit Packungen von Trinkjogurt. „Drink Jogurt!“
Die Altstadt von Ulcinj thront hoch auf einem Hügel neben der Neustadt. Genau hier wohne ich. Im Haus Villa Marinero der Familie von Selim, seiner Frau und seiner Mutter Fera, deren Muttersprache nicht mehr Montenegrinisch, sondern Albanisch ist. „Hier in der Altstadt wohnen an die 40 Familien“, erzählt mir Selim, und dass seine Vorfahren schon vor 600 Jahren dort ansässig waren. Ähnliches höre ich von Rexhep, einem Kosovaren, der mir zuvor den schweren Koffer die Treppe hoch in die Altstadt geschleppt hat und unbedingt mit mir Fisch essen will. Er habe lange Zeit im Immobilienbusiness gearbeitet, schalte aber mittlerweile einen Gang zurück und habe sich ein Türmchen in der Altstadt von Ulcinj gekauft und restauriert. Wir schauen von der Restaurantterrasse über die hell erleuchtete Neustadt. „Findest du, der Blick ist schön? Dann irrst du dich! Den allerbesten Meeresblick habe ich!“
Was ich mir auch denke, als ich am nächsten Morgen splitternackt am FKK-Strand von Ada Bojana liege, jener fast dreieckigen Insel im Süden Montenegros, die für freie Körper bekannt ist. Daneben liegt schon Albanien. Ada Bojana ist ein Naturparadies und nicht nur bei Nackedeien beliebt, sondern auch bei begeisterten Fischessern. Mit dem Meer vor der Nase und dem Fluss Bojana nebenan ist die Auswahl an Meeresbewohnern auf den Tellern groß und frisch. Beide Flussseiten werden gesäumt von Restaurants, deren Terrassen direkt überm Wasser schweben und mich an die Flussrestaurants am Mekong in Laos erinnern. Auf den Speisekarten steht Fisch erster und zweiter Klasse – wer welcher ist, verstehe ich noch immer nicht. Eins gibt es in jedem Fall viel: jegulja – Aal. All die Häuschen, die keine Restaurants sind, werden als Ferienhäuser hauptsächlich von Einheimischen gemietet. Ich schaue auf die gemütlichen Holzhütten, auf deren Terrassen Hängematten in der Brise schaukeln und stelle mir vor, ich würde dort eine Woche verbringen. Ob ich eines Tages zurückkehren und genau das tun werde?
Spät am Abend, ich will gerade schlafen gehen, klopft es an die Tür meines Apartments. Selim. „Steht dein Auto noch auf dem Parkplatz unten am Wasser? Es kommt eine Sturmflut, alles wird überschwemmt!“ Er fuchtelt aufgeregt mit den Armen. Natürlich steht mein Auto dort, ich wollte ihm ja einen Erster-Reihe-Meeresblick gönnen. Selim bietet sich an, es für mich in Sicherheit zu bringen. Gute Entscheidung – am nächsten Morgen fehlen vielen Autos, die am Wasser stehengeblieben sind, einige Einzelteile, die wohl gerade auf dem Weg nach Italien sind. Dabei sind Sturmfluten nicht die einzigen, die in Ulcinj Unheil anrichten. „1979 hatten wir ein schlimmes Erdbeben, das einen Großteil der Altstadt zerstörte“, erzählt mir Selims Mutter Fera, während sie das Frühstück auftischt. „Wir dürfen hier oben nur aus Stein bauen, Beton ist tabu, und die Steine von unten hochzubringen ist aufwendig und teuer.“ Früher seien dafür Esel benutzt worden. „Unser Bürgermeister will, dass die Altstadt ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen wird, aber das ist schwierig, weil nach dem Erdbeben nicht alles wieder perfekt aufgebaut wurde.“
Perfekt aufgebaut oder nicht – ich fühle mich in den kleinen Gassen mit ihren Steinhäusern pudelwohl. Am allermeisten jedoch auf dem kleinen Balkon meines Apartments bei Selim, mit unverbautem Weitblick über die sanften Wellen der Adria, wo ich mich fühle die die Kaiserin von Montenegro.
Der Abschied fällt schwer. Von Haris Fischrestaurant ein paar Gassen weiter schaue ich am letzten Abend gemeinsam mit einer Katze zu, wie sich die Nacht übers Wasser legt. Der unvergleichliche Geruch nach Sommermeer liegt in der Luft, darunter mischt sich der Duft nach frisch gegrilltem Fisch, den Haris Frau in der Küche zubereitet – Fischen ist Aufgabe der Männer, den Fang kochen Job der Frauen, habe ich gelernt. Der Hauswein steigt mir zu Kopf, und mit ihm die Nostalgie. Manchmal passiert es, dass ich mich schon zurücksehne nach einem Ort, an dem ich noch bin. Doch das ist gut. Denn das passiert nur auf den allerschönsten Reisen.
Der erste Teil der Reise (zu den Nationalparks) wurde unterstützt von der Nationalen Tourismusorganisation von Montenegro.
Infos:
Nationalparks:
Aktivitäten:
Rafting & Ziplining: http://www.explorer.co.me/
Empfehlenswerte Unterkünfte:
Hotel Lovac, Zabljak
Villa Marinero, Ulcinj: http://villa-marinero.ulcinj.hotels-me.net/de/
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