Tradition und Neuanfang im Hochschwarzwald
Geschichten von Menschen und Mut
Es gibt Orte, von denen bleiben uns die Weite der Landschaft, die Höhe des Himmels, Wellenrauschen oder die letzten Sonnenstrahlen hinterm Gebirge. Und dann gibt es Orte, die hinterlassen Begegnungen. Nicht nur, aber besonders auf Reisen, dippe ich manchmal den großen Zeh in Menschenleben, die der Vorstellung vom Morgens-bis-abends-Bürojob und dem geregelten Einkommen den Mittelfinger zeigen und einem eigenen, oft schiefen und krummen Pfad folgen. Die Menschen, die es mit dieser Art Leben aufnehmen, inspirieren. Weil sie es sich nicht einfach machen, ihre Träume beim Nacken packen und ausschütteln. Weil sie es wagen, die Blaupause vom gesellschaftlich wünschenswerten Weg gegen eine selbst gezeichnete Skizze einzutauschen. Im Hochschwarzwald begebe ich mich auf die Spur eines Holzkünstlers, eines Schindelmachers und einer Waldbadenden. Und bekomme Nachhilfe in Leidenschaft und Mut.
Die Schaffhauser Säge – IKEA für Individualisten
„Ich vermute mal, dass er Single ist – bei dem Lebensstil ist es sicher nicht leicht, eine Frau zu finden, und Familie kann man ganz vergessen“, höre ich eine Frau sagen. Es geht um Josche Frankenberger, 45, gebürtigen Stuttgarter, der allein im Wald lebt. In einer Säge. Als die Worte meine Ohren erreichen, denke ich gerade darüber nach, was für ein interessanter Mensch Josche doch ist, dass ich seinen Geschichten stundenlang lauschen könnte. Über seine Entscheidung zu diesem Leben, über seine Prioritäten, seine nicht alltäglichen Alltagserfahrungen. In der letzten Stunde habe ich ein wenig von ihm erfahren: „Ich habe vier Berufe gelernt, machte eine Ausbildung zum Feinmechaniker, arbeitete als Vergolder und Einrahmer, als Fotograf und Projektmanager. Dann habe ich mehrere Jahre im Kulissen- und Messebau gearbeitet.“ Seit 2015 lebt er mitten im Wald, irgendwo im Hochschwarzwald, in der über 200 Jahre alten Schaffhauser Säge, einst Säge eines Klosters, dann Forst- und später Ferienhaus.
Obwohl die Ortschaft Grafenhausen nur zwei Kilometer entfernt liegt, ist Josche unten im Tal von allem abgeschnitten – sogar vom Handyempfang. Statt Klingeltönen gibt es bei ihm Vogelgezwitscher, Waldrauschen und Rascheln im Gebüsch, wenn sich die Nachbarn – braune Eichhörnchen – auf Futtersuche machen. „Aber natürlich habe ich WiFi“, lacht der bärtige Mützenträger mit Holzbrille auf der Nase, dessen Augen so lebendig wie seine Hände und Füße sind. Ständig hüpft er von einem zum anderen, seine Hände beschreiben Formen oder malen Winkel an die Tafel. Denn einsam ist er nie: Nicht nur die Eichhörnchen sind Stammgäste, sondern auch Menschen von überall her, die in seiner Erlebnis-Werkstatt Möbel nach eigenen Vorstellungen oder Josches Design bauen.
„Ich hatte keine Lust mehr auf den Krach von mehrspurigen Straßen, bin von der Stadt in den Wald geflüchtet und habe zwei Jahre gebraucht, mir die Säge als Haus und Werkstatt aufzubauen. Natürlich hatte ich es hier als Städter und Schwabe nicht leicht – bis ich mich anbot, die Kulissen für die Theatergruppe vor Ort zu errichten.“ Vom Bett bis zum Esstisch, zu den Bücherregalen und Lampen, sind sämtliche Einrichtungsgegenstände im Haus selbst gezimmert. Ein grüner Kachelofen wärmt die Wohnküche, wo frisch gebrühter Kaffee auf dem Tisch dampft. Der Grund, warum Josche begann, seine eigenen Möbel zu schreinern, leuchtet ein: „Die Möbel, die ich mir leisten konnte, gefielen mir nicht, und die, die mir gefielen, konnte ich mir nicht leisten.“
Also machte er sich selbst ans Werk – und kam auf die Idee, auch anderen den Traum vom maßgeschneiderten Möbelstück zu ermöglichen. Wer sich etwas Individuelleres wünscht als die Musterküche oder das Schlafzimmer aus dem IKEA-Katalog oder Designermöbel in der Preislage eines neuen Kleinwagens, kommt zu Josche. „Ich biete vor allem an Wochenenden Kurse an, zu denen bis zu sechs Personen kommen können – oder auch nur einer oder ein Paar.“ Es sei egal, was die Leute wollten, ob einen Hocker, ein Bett oder gar eine ganze Küche. „Das Holz besorge in der Regel ich, vor allem Zirbenholz oder Eiche erfreuen sich gerade großer Beliebtheit.“ Ein Tageskurs koste 110 Euro plus Material, und auch größere Objekte würden grundsätzlich an zwei Tagen fertig.
Im Sägewerk steigen auch mal Kindergeburtstage und jeder, der eine Idee hat, ist willkommen – obwohl Josche manchen Traum auf Realitätsgröße stutzen muss. Die Werkstatt, wo es nach Wald riecht, ist um 10 Uhr, pünktlich zu Workshop-Beginn – „schließlich will ich ja ausschlafen“ – wohlig warm, die Dielen knarren. Formatskreissägen, Stechbeitel, Fräsen und Co. warten darauf, unter Josches Anweisung selbst von Laien bedient zu werden. Natürlich nach genauer Planung an der Tafel, denn ohne Plan wird das nichts. Allerdings nur in Bezug auf Möbel, denn wenn es um die Zukunft geht, lässt es Josche entspannter angehen: „Ich mache mir keine Gedanken um die Zukunft, die ergibt sich schon von selbst.“
Schindelmachen, das aussterbende Handwerk
Während ich wenig später Ernst Karle, 52, dabei zuschaue, wie er Schindeln schleift, frage ich mich, ob er der Zukunft ähnlich ruhig entgegensieht wie Josche. Sein Beruf des Schindelmachers mag bereits in der Vorantike aktuell gewesen sein, doch heute ist er vom Aussterben bedroht. Trotzdem hat Ernst auch seinem 26-jährigen Sohn das Handwerk gelehrt, das bereits sein Großvater ausübte. „1983 absolvierte ich die Lehre zum Dachdecker und lernte dabei auch das Schindelmachen.“ Zuvor habe er auf dem Dachboden seines Hauses die Schnitzbank und das Werkzeug seines Großvaters gefunden. Ernst wuchs selbst in dem verschindelten Haus in Todtnau-Muggenbrunn auf, in dem er noch immer gemeinsam mit seinem Sohn und seinem Kater Leo, der sich mit dem langen Fell mit Vorliebe in den Holzspänen wälzt, sein Handwerk ausübt. Bis dato habe ich noch nie von Schindeln gehört – schuppenartigen Holzpfannen, die unter anderem im Schwarzwald Häuserfassaden zieren und laut Ernst 30 bis 100 Jahre halten.
„Wir machen Schindeln aus ausgesuchten Fichten. Das Holz muss im Winter geschlagen werden, und für die Schindeln nutzen wir nur die untersten zehn Meter eines Baustammes – außerdem nur Bäume mit Linksdrehung.“ Ernst macht vor, wie er aus einem Baumstumpf Schindelholz spaltet – einer von insgesamt zehn Arbeitsgängen, die vom Baumfällen bis zum Feinschliff auf dem sogenannten Schneidesel reichen. „Pro Tag stelle ich etwa 800 Schindeln her, und 2018 habe ich 40.000 Schindeln an Hauswänden befestigt, das sind zwei halbe Schwarzwaldhäuser.“ Und wer bezahlt 120 Euro pro Quadratmeter Schindelfassade? „Hüttenbesitzer, die ein neues, traditionelles Haus bauen oder welche, dir ihr Haus restaurieren.“ Dass das Schindelholz nach einem Jahr grau werde, sei ganz normal, dafür sei es aber auch resistent gegen Sturm und Flugschnee. „Die Schindeln kommen dreilagig an die Häuser, angeordnet wie Schuppen, und werden mit vier bis fünf Nägeln befestigt.“
Wenn Ernst nicht gerade Schindeln herstellt, arbeitet er als Dachdecker. Ohne das Schindelhandwerk zu leben, kann er sich nicht mehr vorstellen. „Soweit ich weiß, bin ich der einzige angemeldete Schindelmacher der Gegend, außer mir gibt es nur ein paar Holzmacher, die das Handwerk nebenher ausüben.“ Er freut sich über jeden, der mal einen Blick hinter die Fassaden eines Schwarzwaldhauses werfen will und etwas über ein Handwerk erfahren, das sogar spannender ist als ein Ausflug zum mit 1.493 Meter höchsten Gipfel Baden-Württembergs, dem Feldberg.
Waldbaden – der Blick ins Innere
Noch vor ein paar Jahrzehnten konnte man es sich bestimmt schwer vorstellen – dass Menschen dafür zahlen würden, um im Wald spazieren zu gehen, zur Ruhe zu kommen und die Natur zu spüren. Eine Tour rund um den Titisee oder Schluchsee kann man allein unternehmen, doch wem der Sinn nach einer Naturerfahrung mit spirituellem Touch steht, der geht zu der 39-jährigen Melanie Manns. Die ausgebildete Touristikfachwirtin und Erlebnispädagogin hat sich nach zahlreichen Weiterbildungen selbstständig gemacht, bietet Hochschwarzwaldbesuchern exotisch klingende Erlebnisse wie Waldbaden und Qi-Walking an. An dem Morgen, an dem wir mit Melanie in den Wald ziehen sollen, regnet, was vom Himmel will, wir überlegen, die Tour abzublasen – und entscheiden uns doch für eine Stippvisite.
„Wenn es kalt ist und regnet, haben wir die Tendenz, die Schultern hoch- und den Kopf einzuziehen, als könnten wir uns dadurch schützen. Ich möchte, dass ihr an diesem Morgen Achtsamkeit übt, die Schultern bewusst nach unten zieht und mit geradem Rücken hinaus in den Regen tretet.“ Einfacher gesagt als getan, wenn einem das kühle Nass um die Ohren peitscht, aber hat Melanie nicht recht? Den Kopf einziehen heißt nicht, dass man weniger nass wird – und dazu bekommt man noch Rückenschmerzen.
„Es geht bei meinen Spaziergängen um Bewusstsein für den eigenen Körper, darum, bei sich selbst anzukommen.“ Ziel sei, in der Natur oder später auch daheim Kraftorte zu finden, wo man ganz bei sich sei. „Für mich ist so ein Ort der Bilstein-Felsen mit wunderschönem Blick auf den Schluchsee.“ Dort habe sie sich 2008 bei einem Spaziergang auf einen Stein gesetzt und gespürt, dass dieser etwas Besonderes sei – und tatsächlich habe er sich als keltischer Kultstein herausgestellt. Beim Waldbaden oder dem Qi-Walking, was anderthalb bis zwei Stunden dauert und mit 125 Euro zu Buche schlägt, hat jeder die Gelegenheit, seinen eigenen Kraftort zu entdecken.
„Ich habe für mich begriffen, dass wenn ich zentriert bin, alles andere sich auch zusammenfügt.“ Dieses Gefühl wolle sie auch ihren Gruppen mit maximal zwei oder drei Personen vermitteln. Mit einem Klanginstrument, dem sie sanfte, beruhigende Töne entlockt, unterstützt Melanie ihre Gäste dabei, für ein paar Stunden ins Hier und Jetzt zurückzukehren, fort von Alltagssorgen und Ängsten, den Boden unter den Füßen zu spüren, zu atmen. „Qi bedeutet Lebensenergie.“ Walking in der Natur diene dazu, dass Körper, Geist und Seele wieder miteinander harmonisierten und blockierte Lebensenergie frei fließen könne. Unterwegs gibt es Lockerungsübungen für Beine und Becken, am Ende wird gedehnt. Draußen im Wald dürfen alle Anspannungen abfallen, dürfen die Arme schleudern.
„Übt euch immer wieder in Achtsamkeit, achtet darauf, dass ihr die Füße sanft absetzt und locker abrollt. Nehmt die Hände mit in die Bewegung, stellt euch vor, ihr wärt eine Marionette, würdet ein Bein nach dem anderen hochziehen.“ Kein übler Gedanke in einer Welt, die oft das Gefühl vermittelt, die Fäden zum eigenen Leben halte jemand anders. Qi-Walking soll sowohl beruhigen als auch aktivieren, soll mit der Natur in Einklang bringen, denn immerhin trage man alles von außen auch in sich. Ich denke an meine eigenen Naturmomente – im australischen Outback, in der Steppe Kirgistans, in den Bergen Neufundlands, in der Lüneburger Heide. Erinnere mich an meine Erkenntnis, dass jeder Schritt dort in der Natur gleichzeitig mit Kalorien auch Sorgen verbrannte. Besinne mich darauf, dass ich wichtige Entscheidungen oftmals irgendwo draußen treffe, wo die Warteschleife an Sorgen und Ängsten in meinem Kopf gekappt ist. „Die Natur hat immer die passende Antwort für uns“, echot Melanie meine Gedanken.
Und was, wenn uns wie an diesem Tag der Regen schon nach Kurzem zurück ins Innere treibt, die Natur eher feindlich als ein Ort der Erholung scheint? Melanie lässt uns mitten im Gasthaus an einem Tisch Platz nehmen. Neben uns klappern Kellner mit Geschirr, schreit ein Kuckuck zur vollen Stunde, plaudern Gäste durcheinander. Achtsamkeit und Besinnung für Fortgeschrittene. Melanie redet mit leiser Stimme auf uns ein, kreiert eine Fantasiewelt aus Blätterrauschen und leichtem Windhauch, aus Harzgeruch und Vogelgezwitscher. Dann geht sie mit der Klangschale an uns vorüber. Mir will es nicht gelingen. Ich höre noch immer Geklapper, Geplauder und den Kuckuck. Fühle mich wie beim Sport, wenn die Bauchmuskeln nicht richtig angespannt sind und der Rücken durchhängt. Werde mir bewusst, dass ich noch lernen muss, mich auf die Mitte zu besinnen. Auf den Bauch. Auf den Ort, wo Bauchgefühle entstehen, wo Schmetterlinge fliegen, wo Liebe durch den Magen geht.
Und plötzlich verstehe ich, dass es heutzutage wegen Menschen wie mir 125 Euro kostet, bewusst durch den Wald zu spazieren, denn was Seltenheitswert hat, hat auch seinen Preis. Wie die Rückkehr zur Natur. Zu uns selbst, inmitten von Klappern und Quatschen und dem Geschrei von jedem Kuckuck, der etwas von uns will. Auch ich muss es noch verdammt viel üben, die Gehörmuscheln einzuklappen und den Blick nach innen zu richten, als ginge mich die äußere Welt nichts mehr an. Ein Kraftort in mir selbst. Ich denke an Josche und seine Säge, an den Schindelmacher und sein Schindelhaus, an Melanie und ihren Wald. Jeder von ihnen hat ihn auf seine Weise gefunden, seinen Platz, wo er festen Boden unter den Füßen hat, auch wenn dieser Boden für manch anderen ein Moor wäre. Und dafür bewundere ich sie alle drei.
Diese Reise wurde unterstützt vom Hochschwarzwald-Tourismus.
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