Urlaub im Kosovo
Europas letzte Wildnis? von Bernadette Olderdissen
„Wie kann man nur so bescheuert sein, in den Kosovo zu fahren?“ Einige stellen die Frage laut, anderen lese ich sie vom Gesicht ab. Meinen Bekannten. Sogar einigen Freunden. Und ich, ich bin gerne so bescheuert. Will unbedingt einen der letzten ‚wilden‘ Flecken Europas erkunden. Einen Ort, der noch nicht auf der Zielgeraden zu einem der sogenannten Geheimtipps ist, die die Pauschaltouristen innerhalb weniger Jahre besudeln wie die Mücken ein nacktes Bein. Auf einem Kontinent, auf dem fast jedes Eckchen erforscht und touristisch erschlossen ist und über den immer wieder dasselbe mit anderen Wörtern geschrieben wird, klingt der Kosovo noch exotisch. Ein bisschen unruhig. Gefährlich, behauptet manch einer. Mein Traum.
Auf dem Weg zu den „Barbaren“
Bevor ich mich auf den Weg mache, verbringe ich ein paar Tage in Serbien. Und nutze jede Gelegenheit, bei den Einheimischen auf den wunden Punkt Kosovo zu drücken. Bisher kenne ich den Kosovo vor allem aus den Horrornachrichten meiner Jugend. Aus Storys über Krieg und nicht enden wollende Gewalt und Flucht. Ich ziehe das rote Tuch aus der Tasche. Und jedes Mal aufs Neue verwandelt sich eine wohlwollende serbische Miene in eine Grimasse. „Kosovo ist Serbien!“, lautet die Devise. Natürlich. „Und warst du schon mal im Kosovo?“, forsche ich weiter. Entschiedenes Kopfschütteln. Da könne man unmöglich mit serbischem Autokennzeichen hinfahren, da würde man ja sofort angegriffen. Diese Unmenschen hätten immerhin auch jede Menge serbisches Kulturgut geschändet. Alles Barbaren! Ich werde gewarnt, über den Kosovo aus Serbien auszureisen. Das würde von Serbien nicht anerkannt und ich bliebe dann offiziell illegal in Serbien. Wieso, wenn doch der Kosovo Serbien ist?
Dabei sind die Serben nicht die Einzigen, die den Kosovo nicht als das unabhängige Land anerkennen, das es seit 2008 sein will: Neben Serbien existiert der Kosovo auch für 5 EU-Länder nicht, darunter Spanien und Griechenland, und allein 110 von 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen erkennen die Unabhängigkeit an. Nur den Euro, den gibt es im Kosovo schon – und das seit 2002, als er die ab 1999 genutzte Deutsche Mark ablöste.
Mein Kosovo-Abenteuer startet vom serbischen Novi Pazar aus. An einem Morgen Ende Oktober, der wettertechnisch an ein englisches Hochmoor erinnert. Ich zerre meinen Koffer zum Busbahnhof, wo viele Busse, die ihre besten Tage irgendwann im vorigen Jahrtausend hatten, herumstehen. Daneben rauchende Männer in ähnlichem Zustand. „Pristina?“, frage ich in die Runde, denn Zielschilder wurden hier noch nicht erfunden. Ein Mann nickt, deutet auf den Bus hinter sich. Ich werfe meinen Koffer in die offene Klappe unten und steige ein.
Grenzwertig
Zu meiner Überraschung fährt der Bus los, als er noch nicht mal halb voll ist. Aber warum sollte er auch nicht? Schließlich bin ich nicht in Afrika oder Südostasien, wo Busse in der Regel erst starten, wenn auch der letzte Millimeter im Gang belegt ist. Im Grunde habe ich dem Kosovo gegenüber genauso viele Vorurteile wie die Serben und andere Länder. Aber fahre ich nicht auch deshalb dorthin, um endlich zu verstehen, wie es wirklich aussieht? Ist das nicht das Ziel meiner meisten Reisen? Den Fernseher ausstellen, mit ihm die in den Kopf getackerten Bilder und einfach mal nachschauen, was da draußen wirklich vor sich geht?
Ich klebe mit der Nase an der verschmierten Scheibe. Fiebere der kosovarischen Grenze entgegen. Wobei ‚Kosovaren‘ eine noch immer umstrittene Bezeichnung der Bewohner des Kosovo ist, die sich selbst nach Volkszugehörigkeit Albaner, Serben, Roma etc. nennen. Der Einfachheit halber – und weil Kosovar die im Pass angegebene Staatsangehörigkeit ist – verwende ich den Begriff aber mal. Was wird passieren? Werden wir an der Grenze angehalten? Kontrolliert? Gibt es überhaupt einen Stempel in den Pass, wenn das Land nur so halb existiert? Die Antwort kommt keine halbe Stunde später. Ein Gehilfe des Busfahrers sammelt sämtliche Ausweise und meinen Pass ein und verschwindet damit in einer Hütte draußen im Nebel. Mich überkommt sofort das Gefühl von Nacktheit, wie immer, wenn ich irgendwo in der Weltgeschichte passlos herumlaufe.
Natürlich findet die Nacktheit wieder nur in meinem Kopf statt. Fünf Minuten später kommt der Mann zurück. Ich blättere durch meinen Pass und finde auf Seite 14 den stolzen Stempel ‚Republik Kosovo‘. Endlich bin ich im europäischen Niemandsland. In meinem Balkan-Reiseführer werden ihm ein paar nutzlose Seiten zugewiesen, ein paar Worte über serbische Klöster. Ich schaue wieder nach draußen, warte darauf, dass jetzt vor dem Fenster alles anders wird. Doch wie immer, wenn ich warte, passiert nichts. Im Gegenteil, mir kommen Zweifel, ob wir schon im Kosovo sind: Serbische Flaggen säumen Straßenzüge, die Autos haben serbische Kennzeichen. Und das will ein unabhängiges Land sein? Oder bin ich doch im falschen Bus gelandet? Aber ich habe doch schon meinen Stempel!
Ich atme auf, als das Schild ‚Mitrovica‘ vor dem Fenster erscheint. Der Name sagt mir etwas, ist in meiner Erinnerung mit Blut befleckt – wegen besonders heftigen Zusammenstößen zwischen Kosovo-Albanern und Kosovo-Serben 2004. Wir überqueren eine Brücke, die berühmte Ibar-Brücke, die damals im Zentrum des Konfliktes stand, wie ich später nachlese. Und plötzlich ist alles anders. Statt serbischer Beflaggung herrscht nun albanische. Die Autos tragen RKS am Kennzeichen. Alle Beschilderungen sind auf Albanisch. Das Gebiet der serbischen Minderheiten liegt hinter uns.
Lost in Pristina
Am Busbahnhof von Pristina soll ich von albanischen Freunden abgeholt werden. Ich sehe mich um. In fremde, skeptische Gesichter. Noch mehr rauchende Männer. Mancher Blick fährt zu meinem Koffer. Ich bin die einzige Touristin weit und breit. Die Einzige im Bus, die nicht zielstrebig in eine Richtung davongeht. Das habe ich davon, dass ich im Kosovo Urlaub machen will. Meine albanischen Freunde wollten sich auch um eine Unterkunft kümmern. Drei Mal rufe ich an. Höre langes Tuten. Die Männer am Busbahnhof glotzen weiter.
Ich zerre meinen Koffer zu einem Taxi. Mein einziges albanisches Wort ist ‚Faleminderit‘. Danke. Ob ich damit ein Dach über den Kopf kriege? Aber sicher: Der Taxifahrer kann sogar ein paar Brocken Deutsch. „Irgendein Hotel im Zentrum, nicht teuer“, verlange ich. Den Taxipreis vorab auszumachen, habe ich glatt vergessen. Seelisch stelle ich mich mal auf eine unverschämte Taxirechnung und eine üble Absteige ein. Plötzlich halten wir vor einem mehrstöckigen, modern aussehenden Gebäude. Das Taxi kostet nur ein paar Euro. Vielleicht wird doch noch alles gut. Die Rezeptionistin lächelt, spricht genauso gut Englisch wie die meisten jungen Leute in Serbien. 25 Euro die Nacht ist für den Kosovo wahrscheinlich ein Wucher, aber ich nehme das Zimmer. Und lande im sechsten und letzten Stock mit Weitblick über Pristina und die umliegenden Berge. Ich schließe die Stadt auf den ersten Blick von oben in mein Herz.
Unten auf der Straße steigt mir Pristina sofort in die Nase und die Gehörgänge. Ich muss an Istanbul denken, während ich mich durch das Labyrinth schlängele. Schrille Musik plärrt aus Geschäften und Anlagen von Straßenverkäufern, von Minaretten wird zum Gebet gerufen. Hier und da brutzelt etwas auf Grills oder in Pfannen. Weiter geht es über einen Bazaar-artigen Markt. Bis ich auf einem großen Platz lande. Hier wird gegen etwas, das ich nicht lesen kann, demonstriert. Mit vielen albanischen Flaggen und Fotos von jungen Leuten. Ich bleibe vor einer großen Statue von Skanderberg auf einem Pferd stehen. Aus Albanien weiß ich, dass er ein albanischer Nationalheld ist, weil er Albanien gegen die Osmanen verteidigte. Ihm gegenüber thront Ibrahim Rugova, pferdlos. Der erste Präsident des Kosovo von 1992-2006. Rund um den Platz sitzen junge Leute in Straßencafés. Mittlerweile hat sich auch die Sonne hervorgequält. Ich fühle mich wie in einer deutschen Stadt an einem schönen Herbsttag. Und mit den Wolken ziehen die grausamen Kosovo-Bilder aus den Nachrichten meiner Jugend zwar nicht ab, aber doch weiter.
Mein Freund, der Freiheitskämpfer
Am Abend bin ich mit Flori verabredet, mit dem ich über Couchsurfing Kontakt aufgenommen habe. Er ist mager. Fast haarlos. Mit richtig schrägen Zähnen. Kettenraucher. Und mit einem Gesicht wie ein gut gewählter Serienmörder-Darsteller in einer billigen Soap Opera. Er geht mit mir richtig gut essen – im Fast-Food-Restaurant um die Ecke. Zum Glück kein Mc Donald’s, sondern irgendwas Einheimisches. Und dann sprechen wir, stundenlang. Über unsere Katzen. Schnell ist klar – dieser Mann liebt seine Katze mit unaussprechlichem albanischem Namen. Und steigt bei mir blitzschnell auf die Liste potentieller Freunde. Bald ist das Eis gebrochen, Flori lächelt unaufhörlich. So hässlich ist er doch nicht.
Irgendwann kommen wir von Katzen zum Kosovo. Und zu Serbien. Flori lächelt weiter. „Ich war als Junge in der kosovarischen Armee. Habe das Gemetzel der Serben gesehen. Kinder, Zivilisten. Einfach abgeschlachtet, vor meinen Augen. Dabei hatte ich selbst nichts gegen sie.“ Dieser ganze „religiöse Kram“ sei ihm am Allerwertesten vorbeigegangen, habe er doch eine katholische Mutter und einen muslimischen Vater gehabt – wobei der Islam die Religion mit den meisten Anhängern sei. Er selbst sei aber Atheist. „Was mich sauer gemacht hat damals im Krieg, von 1989-99, war, dass die Serben alle albanischen Lehrer gegen Serben ausgetauscht haben. Es sollte nur noch Serbisch unterrichtet werden. Wir haben uns dann privat Unterricht organisiert.“ Gemächlich fährt Flori fort, dass er immer für die Freiheit habe kämpfen wollen. „Ich habe kein Problem mit den Serben, nur mit dem Regime“, erklärt er, indem er mir in die Augen sieht. Ich glaube ihm. „Und es nervt, dass überall Krieg war, nur in Serbien nicht – und dann beschweren die sich noch, dass die NATO sie bombardiert hat, um den Krieg mit uns zu beenden.“ Vorsichtig frage ich nach, ob ein Serbe wirklich Angst haben müsse, in den Kosovo zu fahren. Flori lacht laut auf. „Das ist uns sowas von scheißegal! Kein Mensch hier interessiert sich für die Serben.“
Prizren
Floris Worte schwirren mir noch im Kopf herum, als ich am nächsten Morgen im Bus nach Prizren sitze. Die Stadt ist gerade frisch aufgebaut und herausgeputzt – so wirkt sie zumindest. Hübsche Häuser im Ottomanstil dominieren den Ortskern und die Hänge hinauf zur Festung. Ich fühle mich an Berat in Albanien erinnert.
Nur, als ich mir die erste Kirche von innen anschauen möchte, wartet eine Überraschung: Ich werde von der Polizei in die Kathedrale Unserer Lieben Frau von der immerwährenden Hilfe begleitet. Immerhin könnte ich eine albanische Kämpferin sein, die serbisches Kulturgut zerstören will. Auch vor der Muttergotteskathedrale Ljeviška auf halbem Weg hoch zur Festung treffe ich auf eine Wache. Dieses Mal ist es kein Polizist, sondern ein Kosovo-Serbe, der mir von dem Feuer 1999 erzählt, das die Kirche und alle Fresken zerstörte. Die nachgemalten Fresken stehen nun im Vorhof. „Auch mein Haus wurde von den Albanern zerstört. Sie haben die Serben vertrieben“, berichtet mir der etwa 70-jährige mit lodernden Augen. „Aber ich hab’s mir wieder aufgebaut und bewache nun freiwillig jeden Tag die Kirche.“
Oben auf der Festung angekommen, stehe ich vor einem Schild: Sie werde in einem von der EU und US-Botschaft geförderten Projekt neu aufgebaut. Tatsächlich stehen hier und dort ein paar Utensilien, die man wohl braucht, um etwas zu bauen. Ein gelber Schlauch schlängelt sich über den steinigen Boden vor den zum Teil verfallenen, gräulichen Festungsmauern. Ich bin die einzige Besucherin, umgeben von Dutzenden einheimischen Kindern und Jugendlichen, die nach der Schule hierher kommen, um zu spielen oder abzuhängen. Und ich sitze dort auf den alten Steinen und genieße die Aussicht über die roten Dächer, über den Fluss und die Hügel. Noch hat der Weitblick keinen Preis, noch halten keine Wächter die Kinder davon ab, hier zu spielen. Noch genieße ich den Luxus einer Touristen-freien Zeit in einem Städtchen mit großem Touristen-Potential.
„Niemals auf leeren Magen trinken“
lautet das Motto der Kosovaren, das ich ein Jahr zuvor bereits in Albanien spüren gelernt habe. Auch Valon, ein weiteres Mitglied der Couchsurfer-Gemeinschaft von Pristina, ist ganz dieser Meinung. Schon vorm Frühstück trinkt man gern mal Raki, und Abendessen auf nüchternen Magen sollte möglichst nicht riskiert werden. Statt Raki gibt es an diesem Abend Sabaja Bier. Mit dem Bier fließen unsere Gespräche. „Ich hatte mal eine serbische Freundin, aber wir haben uns wegen der großen kulturellen Unterschiede getrennt“, erzählt mir Valon. Ansonsten finde er die Serben ganz okay, auch wenn sie kosovarische Pässe noch nicht akzeptierten. „Ausweise aber schon, nur, dass sie manchmal die Regeln ändern. Dann sollen die Ausweise zum Beispiel ab sofort biometrisch sein und man muss erst mal einen Monat warten, bis man wieder nach Serbien reisen kann. Aber man gewöhnt sich an alles.“
Wenig später treffen wir in einer lauschigen Bar auf einen Bekannten Valons, einen jungen Journalismus-Studenten. „Wir hängen hier ziemlich fest“, gibt der zu, „aber beschweren will ich mich nicht. Ich reise erst mal im Kosovo herum, bis wir eines Tages frei werden und die Welt erkunden können.“
Mit der KFOR ins Kloster
Jeden Morgen freue ich mich, wie leicht es ist, im Kosovo zu reisen: Ich steige in einen der am Busbahnhof wartenden Busse, die jetzt auch Zielschilder haben, bezahle unterwegs und bekomme oft sogar noch etwas Süßes zu dem zerknitterten Ticket geschenkt. Das gibt’s bei der Deutschen Bahn nicht. An diesem Morgen breche ich nach Dečani auf, wo das berühmteste serbische Kloster im Kosovo steht. An einer endlos erscheinenden Hauptstraße steige ich aus und laufe gut einen Kilometer weiter, durch saftig grüne Felder, hinter denen die Berge im Sonnenlicht ihr frisch angelegtes Herbstkleid zur Schau stellen. Alle Häuser, an denen ich vorbeispaziere, sehen aus, als wären sie gestern gebaut worden, manche sind noch nicht mal fertig.
Der Friede und die Stille hier sind so absolut, dass ich mir nicht mehr vorstellen kann, wie viel Zerstörung es in dieser Gegend gab. Und dass sie noch immer von der KFOR bewacht werden muss. KFOR, das steht für Kosovo-Truppe, eine seit 1999 aufgestellte militärische Formation der NATO, die für ein sicheres Umfeld von zurückkehrenden Flüchtlingen sorgen soll.
Nach der nächsten Kurve stehe ich schon vor dem ersten KFOR-Posten. Ein Mann auf einem dunkelgrünen Hochsitz winkt mich durch die Schranke. Weiter geht es an Stacheldrahtzaun vorbei, der nun die Wiesen beschützt. Und das Kloster Dečani, das schon von Weitem erhaben und schneeweiß aus dem Grün hervorsticht.
Am Eingang gebe ich meinen Pass ab, den ein KFOR-Soldat studiert. „Du bist aus Deutschland“, stellt er mit österreichischem Akzent fest und plaudert drauflos. „Den Pass musst du hierlassen, ich gebe dir diesen Besucherausweis. Wenn du fertig bist, tauschen wir wieder.“ Er lacht. Gespannt betrete ich das Klostergelände aus dem 14. Jahrhundert, das die Serben noch heute als Teil ihres Staatsgebietes betrachten und das seit 2004 zum UNESCO Weltkulturerbe gehört. Unvorstellbar, dass dieser verträumte Ort seit 1999 vier Mal Ziel von Mörserattacken geworden sein soll sowie von weiteren Angriffen. Außer mir spazieren nur ein paar Mönche in ihren schwarzen Roben umher, den Kopf gesenkt.
Ich war noch nie jemand, der sich die gesamte Geschichte einer Kirche oder eines sonstigen Gebäudes oder Ortes einverleibt wie eine Stulle. Zu schnell hüpfen Daten und Ereignisse in meinem Kopf durcheinander. Ich bin hier, um die Atmosphäre aufzusaugen, um mich für eine halbe Stunde in die Köpfe dieser abgeschieden lebenden Mönche einer Minderheit hineinzuversetzen. Ob es stimmt, dass sie nicht in der Stadt einkaufen, sondern nur einmal im Jahr mit den KFOR-Soldaten nach Serbien oder Montenegro fahren, um sich mit allem Nötigen einzudecken? Dass sie auf dem das Kloster umgebenden Ackerland genug anbauen, um zu überleben, kann ich mir vorstellen. Aber würde ich es aushalten, in diesem friedlichen Gefängnis, durch Glaube und Irrglaube von der Außenwelt getrennt, auszuharren?
Gleichzeitig erfüllt und erleichtert mache ich mich auf den Rückweg zur Hauptstraße. In Gedanken verloren bemerke ich nicht den alten Mercedes, der plötzlich neben mir hält. „Soll ich dich mitnehmen?“, fragt ein alter Mann durch das offene Fenster, in fast akzentfreiem Deutsch. Ich steige ein, frage nach seinem Deutsch. Er lächelt. „Mädchen, jeder hier hat noch eine Schwester oder einen Bruder in Deutschland. Aber wir bekommen jetzt kein Visum mehr, um sie zu besuchen.“ Er schüttelt den Kopf. Nicht traurig, eher wie jemand, der sein Schicksal ohne zu murren akzeptiert. An der nächsten Bushaltestelle lässt er mich raus. „Ich gehe Kastanien suchen. Dir auch ein schönes Leben.“
Peja und der Sargmacher
Im Städtchen Peja angekommen, sinniere ich noch über den alten Mann und die vielen flüchtigen Begegnungen, die mir jede Reise schenkt. Begegnungen, die mir mehr über Land und Leute erklären als Reiseführer oder Geschichtsbücher. Habe ich aus den Berichten der Serben Frust, Missbilligung, manchmal sogar Hass herausgehört, verspüre ich nichts davon im Kosovo. Oder habe ich noch nicht mit den ‚richtigen‘ Leuten gesprochen? Warum sind die Menschen hier, obwohl sie als Land noch zwischengespeichert sind, so entspannt und wirken zufrieden? Vielleicht, weil sie keine hohen Erwartungen haben? Gelernt haben, sich erst mal mit ihrer Situation abzufinden? Ohne jedoch die Hoffnung zu verlieren, dass eines Tages alles besser wird. Dass es wieder ein Visum in die Welt gibt. In die Freiheit.
In Gedanken verloren, finde ich mich inmitten eines Bazaars wieder, mit schräbbeliger Musik und einer Menge für mich nicht brauchbaren Gebrauchsgegenständen an den Ständen.
Ich gönne mir Bürek mit Ajran zu Mittag. Esse es auf einer Bank und werde zur mehrminütigen Attraktion der Einheimischen. „Guten Appetit“, rufen mir einige auf Deutsch zu, andere etwas auf Albanisch. Lachend. Ich fühle mich willkommen. Zuhause. Gestärkt mache ich mich auf den Weg den Fluss runter, in Richtung des ebenfalls als UNESCO Weltkulturerbe aufgenommenen Patriarchenklosters von Peć, wie Peja auf Serbisch heißt. Erfahren habe ich davon über die Gratis-App Triposo, die ich mir in Serbien heruntergeladen habe.
Vor mir laufen drei Personen, eine Frau und zwei junge Leute. Zuerst fallen sie mir nicht auf, doch dann drehen sie sich immer wieder zu mir um. Wieso? Ich halte an, um Fotos zu schießen, woraufhin die Drei ihren Schritt verlangsamen. Außer uns ist niemand mehr auf der Straße, nur eine Schafsherde ist vor Kurzem vorbeigezogen.
Mir wird ein bisschen mulmig. War ich zu naiv, zu begeistert von der Gastfreundschaft der Kosovaren? Mein Herz setzt einen Schlag aus, als sich das Mädchen umdreht und auf mich zukommt. Ihr Lächeln verscheucht meine Zweifel. „Brauchst du Hilfe?“, fragt sie mich in perfektem Englisch. Ich brauche keine Hilfe, möchte sie aber. Wir schließen zu den anderen beiden auf, der Mutter und dem Bruder des Mädchens, das sich als Ardita vorstellt.
„Ich war schon mal vor langer Zeit im Patriarchat“, erklärt mir die Mutter, Nel, die fast so gut Englisch spricht wie ihre Tochter. Eigentlich darf man dort nur mit Pass rein, aber weil die Drei mich, die Ausländerin, begleiten, dürfen sie gleich mit. Ich hoffe, dass sie nicht doch albanische Kämpfer sind, die das Kulturgut in die Luft sprengen wollen. Wieder mache ich mir umsonst Gedanken. Nel, die auch Serbisch spricht, erkundigt sich bei den Wächtern nach der Geschichte des serbisch-orthodoxen Klosters aus dem 13. Jahrhundert, erklärt mir die Fresken des Begräbnisses des Heiligen Sava II. Ich erfahre, dass das Patriarchenkloster als heiligster Ort der serbisch-orthodoxen Kirche gilt.
Ardita hält sich treu an meiner Seite, erzählt, dass sie 1994 geboren wurde und die Familie, als sie vier war, von Albanien in einem kleinen Boot nach Italien geflohen sei. Von dort sei es nach Deutschland weiter gegangen. Noch heute habe sie Panik vor Wasser, weil sie damals beinahe im Meer ertrunken seien. „Alle in meiner Familie haben einen serbischen Pass, nur ich nicht“, berichtet sie weiter, „weil im Krieg alles untergegangen ist. Aber jetzt will ich auch einen haben. Ein serbischer Pass bedeutet, dass ich reisen kann. Frei bin.“
Nel packt der Ehrgeiz, mir in kürzester Zeit möglichst viel von ihrer Heimatstadt zu zeigen. Die Familie schleppt mich in ein Restaurant, einfach so zum Ansehen, weil die Terrasse so toll ist. Und bekniet eine albanische Nonne, die Feierabend machen will, mir noch schnell eine schon geschlossene Kirche zu zeigen. Und ich könne unmöglich abfahren, ohne den Hammam besucht zu haben! Leider ist dieser wegen Umbau geschlossen, doch Nel gibt sich nicht geschlagen. Im Kramladen nebenan fragt sie nach dem Schlüssel. Dort schüttelt man den Kopf – den Schlüssel zum Hammam habe der Sargmacher. Und so werde ich auch Pejas Sargmacher vorgestellt, einem knollnasigen Mann, der bei unserem Eintreten erst mal auf eine neue Leiche hofft. Aber auch er kann den Hammam-Schlüssel nicht rausgeben.
Frustriert über die Abfuhr lädt mich die Familie auf einen Wiedersehens-Drink in den Semikomplex nahe des Busbahnhofs ein. Ganz oben gibt es ein Restaurant auf einer Plattform, die rotiert. Wahnsinn! Zuletzt habe ich sowas in München und Seoul gesehen. Und jetzt im kleinen Peja. Bei untergehender Sonne bestaune ich die klein erscheinenden Häuser, die düster werdenden Berge und lausche Ardita. Die plant schon meinen nächsten Peja-Besuch, bei dem ich natürlich bei ihrer Familie wohnen werde. Wir tauschen unsere Facebook-Kontakte aus. Und ich weiß jetzt schon, dass ich zurückkommen möchte.
Im Sportwagen zum Flughafen
An meinem letzten Morgen lerne ich beim Frühstück im Hotel Anita und Xhevid kennen. Anita ist aus Ecuador, lebt aber schon seit Jahren in Deutschland, Xhevid ist ihr kosovarischer Freund. Heute muss sie wie ich zurück zum Flughafen. Da ein Freund Xhevids die beiden abholen will, bieten sie mir an, mitzufahren. Ich freue mich. Doch schon bald soll ich die Entscheidung bereuen. Als nämlich Anita wild zu telefonieren beginnt, mit ihrem Liebsten schimpft und ihm vorwirft, dass sein Kumpel ja nie pünktlich sei. Überhaupt seien die Männer im Kosovo ja sowas von unpünktlich. Ich bin drauf und dran, ein Taxi zu bestellen, als ein Mercedes, neues Sportmodell, mit deutschem Kennzeichen, heranbraust.
Ein schlaksiger Typ springt raus, schnappt sich unsere Koffer und öffnet den Kofferraum. Darin liegt der größte Berg an Jeanshosen, den ich je gesehen habe. Unser Chauffeur, der meine großen Augen bemerkt, greift nach einem Paar, hält sie mir an. Die Dinger sind in Magermodell-Größe geschnitten. Und mein Flug geht in weniger als einer Stunde. In Deutsch und Englisch rede ich auf ihn ein, dass ich keine Jeans brauche, während er weiter in dem Haufen wühlt. Anita überzeugt schließlich Xhevid, seinem Kumpel beizubringen, dass ich den Kosovo lieber ohne neue Jeans, aber in meinem Flieger verlassen möchte.
Irgendwann sitzen wir im Auto, ein Teil des Gepäcks auf dem Schoß. Ab geht’s zum Flughafen, als wären wir auf einer Formel-1-Piste, mit der Mucke so weit aufgedreht, dass man sie noch bis zum Sargmacher in Peja hören muss. „Angela Merkel gut!“, schreit Xhevids Freund. Dann plant er in gebrochenem Deutsch und Englisch einen gemeinsamen Urlaub in Albanien am Meer, wir vier. Zwei Paare. „Komm bald wieder“, beschwört er mich, als er vorm Flughafen meinen Koffer aus den Jeans kramt. Und das werde ich. Offiziell illegal in Serbien bin ich heute noch. Aber das ist mir egal. Für mich ist der Kosovo ein Land. Mein neues kleines, gar nicht so wildes europäisches Lieblingsland. Mit Menschen, von denen sich manch selbst-deklamierter ‚Nicht-Barbar‘ der ersten Welt ein Stück abschneiden könnte.
Kleiner Nachtrag: Der Artikel ist so gut angekommen, dass er auch im Expedia Blog verlinkt wurde: https://blog.expedia.de/blog-tourist/blog-tourist-29/ 🙂
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