Zyperns Norden – Zerrüttete Schönheit am Ende Europas
Viele Urlauber besuchen nur den Süden Zyperns. Den touristischen Teil. Den Teil, wo das Essen britisch ist und die Menschen Englisch wie eine zweite Muttersprache sprechen. Den Teil, wo die Griechen über die Türken schimpfen. Ich will auch mal die Türken über die Griechen schimpfen hören und mache mich auf in den Norden.
Ein Bus bringt mich von Paphos nach Nicosia, der in Süden und Norden geteilten Hauptstadt Zyperns. Die Altstadt ist vollgestopft mit Souvenirläden, in denen grinsende Verkäufer Touristen süße Spezialitäten aufschwatzen. Abseits des Trubels stoße ich auf wunderschöne Einfamilienhäuser, einige davon zur Hälfte verfallen, und auf den beeindruckenden Palast des Erzbischofs.
Nicosia wirkt so normal, dass die Vorstellung, durch das Herz der Stadt verlaufe eine Grenze, verschwimmt. Gut, immerhin erspähe ich vom Observatorium des Shacolas Turms aus eine monströse Moschee auf der anderen, der türkischen Seite, und sehe eine zypriotische neben einer türkischen Flagge wehen, aber trotzdem. Wo soll die Grenze verlaufen? Laut Plan am Ende der Einkaufsstraße Ledra Street.
Gespannt ziehe ich meinen Koffer durch die stinknormale Straße mit den üblichen Klamottenläden, Cafés und Damen mit Handtaschen überm Arm, deren Augen die Schaufenster nach Schnäppchen abjagen. Dann ist sie da. Die Grenze. Ein kleines Schild weist auf die letzte getrennte Hauptstadt der Welt hin, während in einem Kabäuzchen ein griechisch zypriotischer Polizist auf meinen Ausweis wartet.
Nach wenigen weiteren Schritten stehe ich vor der türkisch zypriotischen Polizei. Der Übergang geht runter wie Eis – der Personalausweis reicht, einen Stempel in den Pass gibt es schon lange nicht mehr. Immerhin wurde schon 2003 die Grenze ‚geöffnet‘, was heißt, dass die Zyprioten erstmals selbst einfach von Norden nach Süden und umgekehrt gehen durften. Mittlerweile arbeiten viele Nordzyprioten im Süden, um in Euro zu verdienen, sodass für sie die Grenze, sogenannte ‚Green line‘ oder UN Bufferzone, Teil ihres täglichen Arbeitsweges wird.
Jedoch ist der Übergang nicht für alle leicht, wie ich von Rifat erfahre, der mich auf meinen Eintrag bei Couchsurfing hin angeschrieben hat und sich anbietet, mir einige Tage lang sein Heimatland zu zeigen. Zwar sei er in Zypern großgeworden, doch seine Eltern seien 1975, ein Jahr nach der türkischen Intervention in Nordzypern, von Anatolien nach Nordzypern gekommen. Noch immer werde er als ‚Türke‘ abgestempelt, der nicht die gleichen Rechte wahrnehmen dürfe wie die ‚echten‘ Nordzyprer. „Oft werde ich an der Grenze angehalten, sie wollen mich als Türken nicht durchlassen“, erzählt er verbissen, dabei kenne er sein Land besser als mancher, der einen nordzyprischen Pass in der Tasche habe.
„Griechisches Wasser!“
Über einem Joghurtdrink, Ayran, lernen Riaft und ich uns in der wunderschönen Büyük Han, der größten Karawanserei Zyperns, besser kennen. Im Herzen des offenen Hofes mit Cafés und Restaurants befindet sich eine kleine Moschee mit einem Brunnen für vorgebetliche Reinigung.
Ich fühle mich wie in einer anderen Welt, dabei bin ich nur wenige Schritte vom griechischen Zypern entfernt. Kaum einer spricht noch Englisch, nicht einmal in dem Café, sodass ich dankbar für Rifats Übersetzung bin. Im Bedestan, dem wichtigsten historischen Monument Nord-Nicosias, einst eine Kirche und heute Kulturbühne, werden wir zufällig Zeugen eines wirbelnden Derwischtanzes. Der spirituelle Tanz schwört den Illusionen des Egos ab und strebt Nähe zu Gott an. Der ältere der beiden Tänzer beendet die Zeremonie mit den Worten „Komm, komm, wer immer du auch bist. Wanderer, Gläubiger, Geliebter des Abschieds. Es spielt keine Rolle. Die unsere ist keine Karawane der Verzweiflung. Komm, auch wenn du dein Gelübde tausend Mal gebrochen hast. Komm wieder, komm, komm.“
Unser Stadtrundgang führt an vielen ottomanischen Traumhäusern vorbei, von denen die meisten nun leer stehen und dem Verfall überlassen sind. „Politik!“ Die meisten Nordzyprioten wollten nicht in Nicosias Altstadt wohnen, sie gehöre den Türken, vor denen sie Angst hätten. Bei vielen Häusern weiß man nicht mal, wem sie gehören.“
Immer wieder teilt Stacheldrahtzaun den Blick entzwei, daran baumeln rote Schilder mit schwarzen Lettern ‚Verbotene Zone‘ in verschiedenen Sprachen – Militärzonen. Plötzlich wird mir die Gegenwart der Grenze, die an den Traumstränden Südzyperns so weit weg schien, wieder schmerzhaft bewusst.
Und dann stehen wir am Graben zwischen Süd und Nord, der grünen Linie, in deren Mitte ein leerer UN-Überwachungsposten thront. Wir machen Halt vor einer Reihe farbiger ottomanischer Häuser mit Blick auf diesen grünen Graben.
Hinterm Stacheldrahtzaun liegt der griechische Teil mit dem Ledra Palace Hotel, der zweiten offiziellen Grenze innerhalb Nicosias. „In den 90er Jahren, als wir in der High School waren, sind wir immer hierhergekommen und haben rüber nach Griechenland geguckt“, berichtet Rifat. „Alle Häuser dort waren voller Soldaten mit Gewehren, die uns blöd angeschaut haben, und wir haben zurückgestarrt. Mehr kannten wir nicht vom Süden.“ Fotografieren ist an vielen Stellen untersagt und Rifat warnt mich, bloß keine Fotos von militärischen Einrichtungen zu schießen.
Ich verarbeite noch meine Eindrücke von diesem getrennten Zypern, als wir am Abend fast mit den Füßen im Meer auf unser Abendessen in einem Restaurant in Girne, griechisch Kyrenia, warten. Als ich am Ende den Rest meines teuer bezahlten Wassers in meine noch halbvolle Flasche aus dem Süden leeren will, schreit Rifat entsetzt auf: „Griechisches Wasser, du kannst das doch nicht mischen!“ Die erwartete Explosion bleibt jedoch aus.
The Queen of my castle
In Nordzypern werde ich zum Schloss-Junkie. Es beginnt am Girne Castle, das neben einer Traumaussicht über die Bucht mit einem Dungeon und Schiffwrackmuseum aufwartet. Als ich hineinschlendere, quetscht sich ein großer Hund an mir vorbei, der mich beim restlichen Schlossbesuch begleitet.
Danach bringt mich Rifat zum Alagadi Strand, wo die gleichen Käfige zum Schutz von Schildkröteneiern stehen wie am Lara Beach in Südzypern. Wie am Vortag plaudert mein neuer Freund drauflos, erzählt von seinem Studium und Lieblingslehrer, nach dessen Motto er noch immer lebt: „Du brauchst kein Geld zu verdienen, verdien den Respekt der Menschen.“
Als Nächstes steht das Buffavento Schloss im Pentadaktylos Gebirge auf Rifats Liste der Must-dos, vor dessen Besuch wir uns im romantischen, ottomanisch eingerichteten Buffavento Restaurant mit türkischer Halloumikäse-Pizza und Salat stärken.
Immer wieder überrascht es mich, dass der Norden Zyperns seine kulturellen Wurzeln sogar beim Essen unter Beweis stellt, während im Süden jedes halbgriechische Essen mit Jacket potato oder Pommes verunstaltet wird. Vom einstigen Buffavento Schloss, wobei buffavento ‚keine Angst vor dem Wind‘ bedeuten sollte, ist nur noch eine Ruine übrig, die sich auf einem Bergwipfel in die Felsen schmiegt und nach zwanzigminütiger Kraxelei über eine steile Treppe zu erreichen ist.
Buffavento ist eins der drei Schlösser des Pentadaktylos Gebirges, neben Kantara und St.Hilarion, die im 10. Jahrhundert zum Schutz vor Angriffen der Araber erbaut wurden. Der Blick reicht bis zu einem Berg mit fünf sogenannten Fingern, die Rifat mit verschmitztem Lächeln betrachtet. „Laut Legende duellierten zwei Rivalen um eine Frau. Der Böse von ihnen betrog seinen Freund und schlug ihn. Sterbend streckte der seine Hand nach der Geliebten aus. Die Hand ragt bis heute aus dem Berg.“
Zu Abend wird fein im Restaurant des monströsen 5-Sterne-Hotels Cratos in Girne gegessen, Fisch vom Feinsten. Dass das bombastische Hotel und Casino mit mehreren farbig beleuchteten Pools und jeder Menge luxuriöser Zimmer angeblich von der Mafia betrieben wird, stört niemanden.
Nordzyperns letzte Wildnis
Endlich! Der Tag ist gekommen, an dem wir nach Karpaz fahren, die lange Halbinsel hinauf, die wie eine Messerscheide in Richtung Syrien zeigt. Sie gilt als letzte Wildnis Zyperns und steckt voller wilder Esel und unberührter Natur – obwohl auch dieses Paradies bröckelt. „Vor ein paar Jahren wurden die Schotterstraßen asphaltiert, nun gibt es überall Elektrizität.“ Dass diese Modernisierungen weitere mit sich bringen werden und damit unweigerlich mehr Besucher, steht außer Frage. Doch das Karpaz, das ich noch erleben darf, ist genauso urig, wie ich es mir vorgestellt habe.
Bevor wir das Kantara Schloss besuchen, hat Rifat noch eine Überraschung für mich. Wir fahren plötzlich von der Hauptstraße ab und folgen dem Schild ‚Minia Cyprus Museum‘. Vor einem kleinen Kloster befinden sich Miniaturmodelle aller wichtigen Moscheen, Schlösser und weiterer Gebäude Zyperns, doch dies ist nicht alles: Seit Kurzem werden auch Ausgrabungen unternommen, laut dem aufgeregt schwatzenden Museumsleiter von einer ‚Weißen‘. „Muss eine Engländerin sein“, mutmaßt Rifat.
Der kleine Mann zeigt uns einige Löcher im Boden, unter denen sich Schätze aus der byzantinischen Zeit verbergen sollen, darunter ein zur Hälfte ausgegrabenes Kirchlein aus dem 8. Jahrhundert vor Christus. „Du bist eine der Allerersten, die diesen Ort besucht“, sagt Rifat stolz, denn er habe erst vor zwei Wochen für Besucher geöffnet. „Oft finden Bauern archäologische Funde auf ihrem Land und scharren sie schnell zu, damit ihnen niemand das Land wegnimmt.“
Vorm Kantara Schloss begrüßt uns eine Horde Katzen, die geduldig wartet, während wir die Schlossruinen durchstreifen. Dieses Mal geht es nicht ganz so steil hinauf wie beim Buffavento Schloss, doch die Aussicht lässt ebenfalls nicht zu wünschen übrig – über die weite, durstige Landschaft der Karpaz-Halbinsel.
Nach vielen Streicheleinheiten für die Katzen geht es dorthin weiter. Die Straße wird immer menschenleerer, das Meer blauer, die Wellen, die gegen die Klippen rollen, wilder. Bald ist außer uns niemand mehr unterwegs, als Rifat grunzt: „Komisch, ich glaube, wir haben fast kein Benzin mehr!“ Ich halte das für einen Witz, doch sein besorgter Ausdruck weicht keinem erleichterten Lachen. „Sorry, ich habe vergessen, heute früh zu tanken.“ Ich sehe mich das Auto schon kilometerweit durch die Wildnis schieben, doch Rifat winkt ab. Er habe überall Kontakte, es werde schon jemand kommen und uns helfen. Noch reicht das Benzin bis zum nächsten Dorf, wo uns ein Bauer von seinem Traktor die Richtung zur nächsten Tankstelle weist. Mit Mühe schaffen wir es bis dorthin.
„Hier leben viele Leute aus dem Dorf Erenköy“, beginnt Rifat mit einer weiteren Legende. „Diese Leute sind verrufen, weil sie die Frau von Richard Löwenherz vergewaltigt haben sollen. Deswegen ist er mit seinen Truppen bei uns eingefallen – nur deswegen!“ Diese ‚historische Begebenheit‘ finde sich natürlich in keinem Geschichtsbuch. Das nächste größere Dorf ist Dipkarpaz, von dort geht es weiter die Küste entlang, vorbei an vielen kleinen Bungalows mit Meeresblick, vor denen Einheimische ihre Ferien genießen.
Bevor ich mich auf Golden Sands, einem kilometerlangen Strand hinter den Dünen, in die Wellen werfen darf, fahren wir bis zum Apostolos Andreas Kloster durch. Seit zwei Jahren im Umbau, kann es nicht besucht werden, doch ich gönne mir einen Schluck des heiligen Wassers, für das einige wenige Touristen Schlange stehen. Nach dem Kloster geht es noch ein Stück weiter über eine holprige Staubstraße, bevor wir an Zyperns Ende stehen, dem ein paar kleine Inseln vorgelagert sind – Paradiese für Vögel.
Auf dem Rückweg Richtung Golden Sands steckt immer wieder der eine oder andere neugierige Esel den Kopf ins Auto. Allmählich futtern sich die Tiere durch den Proviant, der unser Lunch sein sollte.
Geister der Vergangenheit
Als letzte der drei einst zur Verteidigung gegen die Araber erbauten Befestigungsanlagen bleibt uns die Ruine St. Hilarion oberhalb von Girne. Auf 732 Metern belohnt uns ein gutaussehender Ritter aus Eisen mit einem charmanten Lächeln.
Danach fahren wir durch die Berge bis zum Wrack eines türkischen Panzers, der dort 1974 beim Kampf mit den Griechen strandete. Legenden besagen, dass er nur dort steckenblieb, weil er den ganzen Weg vom Meer die Berge hochgekommen war, stark und mutig, wie die Türken nun mal waren.
Meine Reise durch Nordzypern endet mit einem Highlight – dem Besuch Famagustas, wo die Türken 1974 landeten. Ich denke wieder an meinen Fahrer Mikael, der für die griechische Armee als Zwanzigjähriger an Land stand und „ran like hell“, als sie die türkischen Schiffe übers Meer kommen sahen. Nun bekomme ich einen Einblick von der Nordseite. Mein Herz schlägt schneller, als wir uns der Varosha nähern, jenem Viertel Famagustas, das heute gemeinhin als ‚Geisterstadt‘ bezeichnet wird. Da es ein besonders reiches Viertel war, voller Casinos, Hotels und reicher Bewohner, umzäunten die Türken es gleich nach ihrer Intervention und erklärten es zur militärischen Zone, in die keiner der ehemals griechischen Bewohner zurückkehren durfte.
Warum? „Politik!“, erklärt Rifat. „Es hätte noch mehr Streit zwischen Türken und Griechen gegeben, wenn die Türken dieses Viertel genutzt hätten, also ließ man es brachliegen.“ Er selbst habe während seiner Wehrpflicht das Innere der toten Stadt besucht und manches Haus gesäubert, sodass die Soldaten dort schlafen konnten, aber im Grunde sei das Gelände vollkommen überwuchert und von Schlangen übersät. Entlang des Meeres ziehen sich die hohen, zum Teil zerfallenen Geisterhäuser, landeinwärts sieht es noch schlimmer aus.
Rifat fährt den Streifen mit mir ab. Auf den ersten Blick handelt es sich um eine ganz normale Straße – rechts spielen vor Einfamilienhäusern Kinder und Hunde streunen umher. Doch auf der linken Straßenseite zerfallen hinter einem bestimmt drei Meter hohen Stacheldrahtzaun einstige Traumhäuser, aus deren Fenstern Gestrüpp und Kakteenpflanzen quellen. Überall hängen ‚Fotografieren verboten‘ Schilder. Nie war mir die Trennung Zyperns und seine Vergangenheit bewusster als in diesem Moment, als ich das vor über 40 Jahren stehengebliebene Leben von Varosha vor mir sehe.
Nirgends ist Zyperns jüngste Geschichte greifbarer als an diesem Ort – auf der einen Seite das moderne Leben, das weitergegangen ist, auf der anderen Seite der Zerfall, generiert von einer Uneinigkeit zwischen Griechen und Türken, die bis heute keine Lösung gefunden hat. Ich verstehe plötzlich die Abscheu der griechischen Bevölkerung vor den Türken, begreife jedoch auch, dass die heutige Generation einstiger Türken, wie Rifat, sich nichts sehnlicher wünscht als eine Einigung des Landes. „Ich möchte den Süden kennenlernen, einfach dorthin reisen und meine Freunde besuchen.“
Der Abschied von Zypern und Rifat fällt mir schwer. Am letzten Tag lerne ich seine Eltern kennen, die mir Saft und hausgemachtes Fladenbrot servieren und mich von den köstlichen Feigen, die in ihrem Garten wachsen, kosten lassen. Türkische Gastfreundschaft vom Feinsten.
Bis zum letzten Moment weiß ich nicht, wie ich rechtzeitig zum Flughafen nach Larnaca kommen soll, da es eine direkte Verbindung zwischen Norden und Süden nicht gibt, man stets in Nicosia umsteigen, die Grenze passieren und dann einen anderen Bus nehmen muss. Doch Rifat hat vorgesorgt. Einer seiner Bekannten, der mit Frau und Familie in den Süden möchte, fährt mich bis zum Flughafen Larnaca. Kosten: null Euro. In weniger als einer Stunde bin ich am Flieger, zurück in Griechenland. Die Leute sprechen wieder Griechisch und Englisch, die Griechen rümpfen wieder die Nase über die Türken. Und ich, ich bin dankbar, dass ich als Außenseiterin Zypern einfach nur lieben darf – den Süden und den Norden, mit seinen Griechen und seinen Türken, die eins ganz bestimmt gemeinsam haben: umwerfende Gastfreundschaft.
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